Auftritt A und B
A: Also, fangen wir an?
B: Aber ja.
A: Gut. Hymne ist ja zunächst mal eine ganz bestimmte From des inhaltlichen Wollens. Sie ist ja der Lob- und Preisgesang. Hymne heißt eigentlich, nur das Beste sagen wollen, was ja dialektisch gewendet auch immer eine Beerdigungsform sein muss. In der Antike wurden Hymnen ja als Preislieder der Heroen und Götter an Festen und Kultfeiern vorgetragen. Das Christianisierungsprojekt ist Ihnen ja sicher ein Begriff. Das ist ja so eine Art Umetikettiermaschine für prä-christliche Kultur, das hat die Hymnen dann an die Neuzeit durchgereicht. Die Neuzeit kann man ja charakterisieren als den Versuch, die nicht mehr geglaubte Gottesautorität zu zerlegen und aus den Teilen neue Kleinst-Ordnungen zu bauen,. Es findet also in einem ganz manichäischen Sinne ein Reliquienhandel statt, wenn sie so wollen. Hymnen heißt ja heute: Nationalhymnen. Das ist eine Verstraffung. Fast schon so eine Kurzform. Man sagt "Hymne" und versteht "Nationalhymne". Die Nationalhymne gehört für uns ja zur Grundausstattung des modernen Staatswesens…
B: Das stimmt, ein Staat ohne Hymne, das wäre ja praktisch ein Do-Not…
A: Ein Do-Not! Genau! Die Nationalhymne ist ja ein Produkt des Nationalstaates, der ja praktisch der Bill Gates des 18. Jahrhunderts ist, ja. Die Garage, ja. Gewissermaßen als das emotionale Archiv des Nationalstaates.
A: Wir können in den Hymnen ja auch eine Rudimentform des Zwiegesprächs zwischen Staat und Bürger erkennen. Ja, Zwiegespräch also… Der Staat an sich ist ja eine Maschine, die Verwaltung produziert. Die Verwaltung des Schweigens zwischen Bürger und Repräsentanz, denn die haben sich ja nicht mehr so viel zu sagen. Das sind ja gigantische Verwaltungslandschaften, die da ab dem 18. Jahrhundert entstehen. Verwaltungslandschaften, die Leute zu überdimensionalem Ungeziefer machen, das darin herum krabbelt – denken Sie an Kafka! Franz!
B: Hmm...
A: Warum so still?
B: Na wegen Kafka, Verwandlung, äh...
A: Ja! Schweigen! Verwirrung! Und dieses Schweigen wird in der Hymne gebrochen, aber nach rückwärts. Die Hymne ist ja der Hochofen, wenn Sie so wollen, in der Staat und Bürger wieder hinter ihre Entfremdung voneinander zurück geschmolzen werden können. Sie haben in der Hymne eine Idee voneinander. Diese Idee ist ja vielleicht nur ganz vage und hochgradig durchformalisiert... aber worüber man nicht mehr miteinander reden kann, darüber muss man singen, ja. Also Schlager…
B: Schlager... aha...
A: Spannend ist es ja, sich einmal anzuschauen: Wer schreibt den eigentlich Hymnen…
B: Stimmt, wer schreibt die eigentlich…
A: Der Autor!
B: Aber das ist doch klar.
A: Moment, moment. Der Autor ist ja das große exemplarische Individuum, den das 18. Jahrhundert aus England importiert. Der Autor ist ja die bedeutendste Erfindung der bürgerlichen Gesellschaft, gleich nach dem modernen Strafvollzug. Der Autor ist ja das Leiden an der modernen Massengesellschaft aber als Disneyland. Das kann er gut. Und was bedeutet das? Dass der Autor Hymnen zu schreiben beginnt. Er entnimmt Blut- und Bodenproben aus dem Volkskörper und synthetisiert die dann. Er will das Phantasma gewaltsamer Vereinzelung - Shakespeare! - überspringen. Und er will in ein anderes Phantasma, das des Volkes, das ja damals auch gerade erst auf den Markt gekommen ist. Es war eigentlich noch recht frisch.
B: Aber wenn sie sagen... äh... der Autor ist... dann ist ja... äh... egal.
A: Gefrorenes 19. Jahrhunderts.
B: Bitte?
A: Nationalhymne ist gefrorenes 19. Jahrhundert. Also sagen wir eher: halbgefrorenes.
B: Semifredo?
B: Ja. Die Nation will gemeinsam die Augen schließen. Hymne heißt ja auch: Sich fallen lassen können in die eigene Idee von sich selbst. Es hat also mit Vertrauen zu tun. Vertrauen ist, wenn es bekannt ist, wenn also das Unbekannte nicht da ist. Die Hymne muss von daher das Vertraute sein.
B: Das versteht sich…
A: Hymne ist also klassische Musik, aber in homöopathischer Dosierung. Vielleicht kann man den typischen Hymnenstil als "etwas" klassische Musik bezeichnen – in Times New Roman.
B: Ja gut, ich mein…
A: Europa exportiert ja im 20. Jahrhundert in erster Linie Ideen. Und was bekommt es dafür im Gegenzug?
B: Äh... Geld?
A: Rohstoffe! Rohstoffe und...?
B: Äh..
A: ...Menschen! Und interessante Konflikte. Sie haben da übrigens was im Mundwinkel. Spinat oder so.
B: Oh, danke.
A: Man kann ja jetzt also sagen, dass der Nationalstaat so ein Exportartikel ist, der ab dem 18. Jahrhundert in die ganze Welt exportiert wird. Und zwar im Franchise-Paket und da ist die Nationalhymne natürlich mit drin. Auf der ganze Welt gibt es plötzlich Nationalhymnen, die massenwirksame Seite der bürgerlichen Kunstmusik, nicht? Morphogenetisches Feld! Sheldrake! Aber sie sind ja eh ein Kenner. Westliche Orchestermusik, transkontinental! In einer gleichzeitigen Ungleichzeitigkeit, dass es einen wegbläst! In Mikronesien, in Asien, in Zentralafrika, am Balkan...
B: Schon verstanden, überall.
A: Ich sage Ihnen, das ist eine gigantische tautologische Spieluhr.
A: Anthropologisch betrachtet gehört die Hymne ja auch in den Bereich der Drohgebärde. Wehrwille. Brust raus. Der Nationalstaat ist ja die vorauseilende Abwehr einer Bedrohung, die er selbst durch seine Existenz erst hervorbringen wird.
B: So gesehen ja…
A: Insofern kann man also sagen, dass wir in den Hymnen eine Verbindung zum Tierreich unterhalten.
B: Also bitte, das ist ja total an den Haaren...
A: Herr Kollege, bleiben Sie bei mir, bleiben Sie bei mir! Ich werde Ihnen ein Beispiel bringen. Der Boubou- oder Flötenwürger, sagt Ihnen der etwas?
B: Linnaeische Bezeichnung?
A: Laniarius aethiopicus.
B: Eine Assel.
A: Knapp vorbei. Eine Sperlingsart, die an der Elfenbeinküste beheimatet ist. Man hat also herausgefunden, dass er in seinem Singrepertoire eine Siegeshymne hat. Wenn er einen Eindringling aus dem Revier vertrieben hat, stimmt er seine eigene Triumphhymne an. Eine Art Siegesjingle!
B: Nicht uninteressant…
A: Die meisten Nationalhymnen beginnen ja mit einer Quart. Kennen Sie die Quart?
B: Reines Intervall.
A: Ah, Vif-Zack! Genau! Der Signaltonsprung! Die meisten Militärsignale sind ja in Quartschritten organisiert. Wir finden das auch im Sirenenwesen, beim Martinshorn, aber auch im karnevalistischen Tusch... nicht? Tätä! Tätä!
B: Kommen Sie mir nicht mit Karneval, das mag ich überhaupt nicht!
A: Reden Sie mir nicht zu schlecht vom karnevalistischen Tusch! Er ist ja auch eine Form der kollektiv travestierten Militarisierung von unten, muss streng genommen also als Militärpersiflage aufgefasst werden. Michail Bachtin!
B: Ach hören Sie doch auf...
A: Okay, okay, kommen wir zurück zum Thema. In Hymnen erinnern Nationen sich und andere daran, dass sie eigentlich Verbände sind. "Den Weg unseres Ruhmes", soll bei den Vietnamesen zum Beispiel "auf den Leichen unserer Feinde" gebaut werden. Und dieser Weg, kann man sagen, ist das Ziel.
A: Wir finden auch ganz wenige bedeutende Komponisten im – will ich mal sagen – Hymnengeschäft.
B: Das stimmt ja nicht!
A: Beweis?
B: Haydn!
A: Was ist mit Haydn?
B: Der hat ja "Deutschland Deutschland über alles" geschrieben. Sein größter Hit!
A: Das gilt nicht. Ist ja erst posthum zur Hymne geworden. Und außerdem: "Deutschland Deutschland über alles"? Die Nordkoreaner singen "Dreitausend Meilen gepackt mit Bodenschätzen"... das ist eine Ansage!
B: Gut, gut.
A: Ich lehne mich da wahrscheinlich weit raus, aber ich tue es trotzdem. Die Hymne ist eigentlich ein klassisches Betätigungsfeld des Dilettanten. Der Dilettant ist ja das wichtigste Kultur-Barometer des 19. Jahrhunderts. Der Erhitzungsgrad des Dilettanten ist ja ein direkter Skalierungseffekt der professionalisierten Erkaltung von Hochkultur ins Reflexive hinein. Zählen Sie mit: Eifer, Gefühlsintensität, Berufenheitspathos.
B: Drei.
A: Ja, damit betreibt der Dilettant sein Handwerk,... der Lobpreis kollektiver Symbole. Und zugleich betreibt er das in einer ungemein beeindruckenden Dialektik des Verfehlens.
B: Na geh, da tun sie denen aber...
A: Ich habe ein Beispiel. Das berühmte Preisgedicht auf Richard Wagner durch die Dichterin Julie Schrader: "Richard Wagner ist ein Meister/Richard Wagner ist ein Held/Richard Wagner ist der Kleister/Der die Kunst zusammenhält"
B: Verstehe, er hintertreibt also auch…
A: Aber ordentlich. Die Dilettanten des 18. Jahrhunderts sind ja Nomaden, auf der Suche nach Feuerstellen. Sie wissen um die Idee der Tiefe, die die Kulturideologie der Aufklärung als einwärts gestülpte Hierarchie aufgerichtet hat. Sie pilgern den Tiefen zu. Und sie vernichten die Tiefe durch ihren Tourismus, also gleichsam absichtslos.
B: Machens kaputt?
A: Ja. Darin besteht ja ihr insgesamtes Nietzschetum als sich selbst unbewusste Bewegung.
A: Also ich kann sie ja förmlich hören, die Hymne. Die griechische Hymne wurde 1864 z.B. auf Betreiben von König Otto nach Bayern geschickt um ein Expertengutachten einzuholen. Man wollte praktisch wissen, ob die musikalische Form gewissermaßen genügt. Man wollte also das offizielle. Die Note. Und erst als das kam, wurde die griechische Hymne dann offiziell. Ich halte das für ein starkes Bild, also wie diese Hymne, die noch keine ist, da losgeschickt wird und sich dann bewähren muss, in Bayern! Und als Hymne dann zurückkommt, also wie Parzival gewissermaßen, der ja auch zurück kommt. Und sie muss sich ja in Bayern bewähren, was ich auch sehr schön finde, nämlich ungefähr da, wohin der Weltgeist nach Hegel ja umgezogen ist - in der Neuzeit, weil er da die Klimabedingungen vorfindet, die seine optimale Entwicklung gestatten.
B: Aha…
A: Kommen wir zu vollkommen anderen Klimabedingungen... denken Sie an den indischen Dichter Rabindranath Tagore, der die indische Hymne geschrieben hat. Und getextet hat. Und sogar ins Englische übertragen. Weil er die Kontrolle nicht abgeben wollte. Sich dem Zugriff eines anonymen ästhetischen Apparates entziehen.
B: Ein Kontrollfreak!
A: Definitiv. Aber er war kein Romantiker. Die Romantiker haben sich ja das Volk vorgestellt wie eine achtlos in den Wald geworfene Schreibmaschine, die, wenn man sie findet, schon total mit Efeu zugewuchert ist. Und die Gebrüder Grimm tanzen drum rum. Aber Rabindranath Tagore hat ja in Europa den Expressionismus kennen gelernt. Und dann schreibt er eine Hymne, was ja auch etwas sehr Expressionistisches ist, streng genommen, denken Sie an Paul Zech oder Alfred Wolkenstein. Der Expressionismus hat ja auch gerne Hymnen geschrieben, aber aktualisierte Klopstock-Hymnen! Sie wissen ja: Göttinger Hainbund, das "Messias"-Fragment! Das macht ja solche Gedankenräume auf. Aber das brauch ich Ihnen ja nicht zu sagen!
A: Hymne ist Wehen.
B: Wehen?
A: Ja, Hymne ist Wehen. Sie ist der Wind, das Element, das alle anderen Elemente berührt, indem es quasi mit ihnen flirtet. Wind ist ja nicht sesshaft. Er trägt ja auch ab, also Heidegger, "der Abbau", ja? Er transportiert ja auch Flugsand, auf französisch "La Lise". Da haben wir dann auch den Deleuze gleich drin. Deleuze klingt gerne an beim Flugsand. Man kann ja sagen, dass der Wind deterritorialisiert.
B: Ja?
A: Und dann müssen Sie wissen: In der Hymne fühlen wir uns noch den Elementen zugehörig. Sie unterhält eine besondere Beziehung zum Wind. Ich kann nur sagen: "Wind of change"!
B: Scorpions?
A: Ja, die Band mit dem viel zu kleinen Frontman. Dieses Lied ist gewissermaßen die Hymne auf die kulturelle und politische Umbruchssituation in Osteuropa Anfang der 1990er Jahre. Wo ja dann wenig später ganz viele neue Hymnen geschrieben werden mussten, weil die so genannte "ehemalige mächtige Sowjetunion" in einen Prozess der Zellteilung eingetreten ist. Wie auf einem Windows-Rechner wo dann die Pop-Up-Fenster kommen und wenn man sie wegklickt kommen sie gleich wieder.
B: Linux verwenden.
A: Also man hat dann ganz schnell unglaublich viele Hymnen gebraucht. Also unheimlich viel Wehen auch dadurch. Die Geburtswehen, kann man auch sagen, von einer ganzen Reihe neuer Länder, von denen es viele ja noch nicht mal bis in die Nachrichten geschafft haben.
B: Zum Beispiel?
A: Inguschetien.
B: Aha, aber ich hab auch nicht so aufgepasst.
A: Das ist doch eine Herausforderung an uns, dass das dann von jetzt auf gleich existiert. Wenn man da hinschaut, findet man ja praktisch immer noch ein Land, an das man jetzt so gar nicht gedacht hätte.
B: Aber die haben jetzt alle schon eine Hymne, oder?
A: Freilich... und alle sind was fürs Herz.
A: Ich will sie ein wenig fordern. Was glauben Sie ist das Gegenteil von Spiel?
B: Äh... Ernst?
A: Nein. Sport! Sport ist das, wenn man sich eigentlich mag und man sucht sich eine Form des Kämpfens, die auch etwas kosten darf.
B: Kosten?
A: Tennisclub oder so. Na wo Sport ist, da sind Hymnen nicht weit. Einer wird ja gewinnen. Kuhlenkampff. Nicht?
B: Worauf wollen Sie hinaus?
A: Singen ist ein militärischer Akt. Und gemeinsam Singen ist ja ein Stahlbad, um Ernst Jünger zu zitieren. Schreiben Sie das bitte auf.
B: Stahlbad... ok.
A: Und dann diese Wettbewerbe! Da ist ja enorm! Die meisten Hymnen sind ja infolge von Ausschreibungen zustande gekommen!
B: Zum Beispiel die österreichische.
A: Ah, AHS-Ausbildung, das riech ich! Ja! Wurde 1946 aus 2000 Einsendungen ausgewählt. Jetzt stellen Sie sich einmal vor, sie hätten diese 2000 Einsendungen hier auf dem Tisch liegen, ja? Diese Intensität! Diese Aufwallung an Hinwendung! Dieses Feuerwerk an Differenz und Wiederholung! Wenn man alles Gefühl aus diesen 2000 Einsendungen herausnehmen würde und zu einer, sage ich jetzt mal so, zu einer Gefühlskette aneinander reihen würde, dann ergäbe das ja vielleicht sogar einen Sehnsuchtstrahl von der Entfernung Erde-Mond.
B: Wirklich? Daran hab ich noch nie gedacht.
A: Das ist kein inhaltlich gefülltes Gefühl, sondern ein gefühltes Gefühl! Also praktisch eine gefühlte Inflation des Fühlens!
B: Gefühltes Gefühl – das ist gut…
A: Oder die mexikanische Hymne... Sie müssen wissen, der Autor wurde von seiner Braut ja dazu gezwungen, am Wettbewerb teilzunehmen.
B: Wie?
A: Heiratsversprechen im Erfolgsfall.
B: Unglaublich!
A: Ja, vollster Körpereinsatz. Hölderlin oder Mozart hatten Genie, aber der Dilettant hat nur sich selbst, und wirft das in die Waagschale. Sein Körper ist die gesamte Erde, könnte man sagen.
B: Heirat gegen Hymne, ich find das so arg.
A: Hymne ist vollautomatische Würde. Im britischen Idiom heißt das: highly dangerous!
B: Sehr gefährlich?
A: Ja!
B: Ja… da müssen Sie sich vorstellen, dass da am 9. Feber 1909 eine deutsche Militärkapelle an einem deutschen Bahnhof in einer deutschen Kleinstadt vor einem deutschen Zeug steht und wartet, dass jemand aussteigt. Wer?
B: Deutscher Schäferhund?
A: Scherzbold! Nein. Der englische König Edward VII! Und die Kapelle spielt "God save the Queen" und...
B: Moment, in dem Fall dann aber "God save the King"…
A: Ah, jetzt haben Sie mich erwischt!
B: Man muss bei Ihnen auch sehr aufpassen.
A: Ja, aber die spielen das 17 Mal. Warum? Weil der englische König sich mit seinem Säbel und den vielen Troddeln an einem deutschen Feldmarschall verheddert hat. Und man hat also 17 Mal "God save the Queen" gebraucht, bis man das wieder auseinander bekommen hat. Ein Loop!
B: Haha!
A: Das erheitert Sie, nicht? Man kann sagen, dass die Hymne als radikale Hochgestimmtheit auch wunderbare Fallhöhen erzeugt. Man stürzt quasi aus ihr auch direkt in die Komik.
B: Chaplinesk!
A: Die Komik ist ja der blinde Passagier der Würde.
A: Kennen sie Kant?
B: Ja, schon...
A: Ist bekannt? Gut! Denn Hymnen brauchen Bilder. Wir finden in ihnen alles wieder, was abstrakt ist, was also zur Verfügung steht. Fahnen, sehr viel Sonne, wo Landschaft, da sehr gerne auch Berge, also das Erhabene nach Kant. Es wird auch nicht gegeizt mit Feuer, z.B. der Hoffnung oder des Glaubens. Alles, was prinzipiell entflammbar ist, ist auch hymnenfähig.
B: Verstehe...
A: Oft dann auch Sterne, Gestirn, denn man möchte ja zu den Sternen greifen, es wird also kosmisch, denn der Kosmos ist ja das Terrain des noch nicht Unmöglichen. Der Kosmos ist kein unbeschriebenes Blatt, sondern eine ungebaute Papierfabrik. "Stars and Stripes" ... wenn möglich forever. Also das Horizontale und das Vertikale, das zueinander will, man will also in alle Richtungen. Man will sich nicht ausdehnen. Man will expotential werden. Aber volle Kanne!
B: Ja…
A: Man kann ja auch sehen, dass da ganz viel Sonne ist, in den Hymnen. Die bürgerliche Gesellschaft unterhält ja eine besondere Beziehung zur Sonne, die noch aus dem Absolutismus herrührt, also Ludwig XIV...
B: Der Sonnendings.
A: Ja, der Dings. Die Sonne, kann man sagen, ist ja auch ein glatt gestriffener Absolutismus. Sie scheint eigentlich für alle gleich, aber da sind die Leute erst recht spät draufgekommen. Und dann gibt es da ja die ganzen Sonnenkönigsminiaturen, die dann ihre Souveränität plötzlich spazieren führen dürfen an der Binnenalster oder in Grinzing oder in Dnjepropetrowsk oder wo man eben sonntags flaniert. Millionen Einsen vor Milliarden Nullen!
B: Ja…
A: Die Sonne ist ja die Lebensspenderin und sie ist ja am Himmel. Sie ist eine entfernte Verwandte Gottes, die eigentlich zu seiner Alleinerbin wurde. Man hat ja Gott sozusagen aus der Leere des Himmels herausgestürzt... ausgepritschelt... direkt in den Himmel der modernen Naturwissenschaft. Und da liegt er jetzt herum.
B: Ja…
A: Die Sonne ist das Energiezentrum. Wir betreten ja das Zeitalter der Energie nach dem Zeitalter des Vertrauens. Vertrauen ist gut, aber mit Maschinen geht das einfach viel besser. Folgepfeil Industrielle Revolution. Energie ist das neue Ding. Die Sonne ist der Nullpunkt der Nahrungskette, das Maskottchen des beginnenden Kapitalismus, der Urknall der Produktivität. Ohne Sonne gäbe es ja keine Verwertung, deswegen will man sich mit ihr verbünden, ja, "Unsere Feinde werden vergehen wie Tau im Sonnenschein", heißt es in der Ukraine. Und in Honduras gönnt man sich ein wenig Pathos: "Tu bandera es un lampo de cielo"... also: "Deine Flagge ist ein himmlisches Licht". Man will die Sonne also anwerben!
B: Das versteh ich nicht....
A: Die Hymne ist katholisch, sie will zum Licht. Und sie ist eine organisierte Form der Ergriffenheit, und zwar durchaus mit dem Ziel der jederzeitigen Verfügbarkeit. Die Hymne muss ja abrufbar sein, ähnlich wie das Hymen in patriarchalen Gesellschaftsformen. Im Kern ist die Hymne ein Gebet als serielle Form des Staunens. Der Staat hingegen ist, wie Sie ja wissen, ist eine durch und durch protestantische Idee. Der Pietismus als politisches Programm. Und insofern könnte man in der Nationalhymne vielleicht so einen ökumenischen Brückenschlag sehen. Eine Art Knoten.
B: Ein Knoten … ach so…
A: Indem er eine Hymne hat, erinnert sich der Staat daran, dass er einmal bei Gott war und als dessen Sohn wiedergeboren wurde, nicht um unsere Schuld gegenüber Gott aufzusaugen, sondern um sich – ganz im Sinne des Protestantismus übrigens – selbständig zu machen.
A: Und, wenn Sie mich fragen, ja, Hymnentexte! Das ist ja das Spannende, das Gespannte daran. Hymnentexte sind ja eigentlich ein Spiegel der geistigen Lage des Bürgertums. Sie spiegeln ja den Bewusstseinswandel vom Weltwürger zum Weltbürger, um es mal salopp zu sagen, also der sich da zu vollziehen meint, wenn Sie das Bild verstehen. Früher Kriege und Kolonien, Expansion, also Rohstoffe, also sich die Erde unterwerfen. Heute Friede, Handelsabkommen, also auch Rohstoffe. Aber die Erde sozusagen überreden.
B: Ja…
A: Die bürgerliche Utopie von Frieden und Recht. Freiheit. Gleichheit. Die ganze Welt betreibt in ihren Hymnen also eine Art Europa-Mimikry... mit der Hoffnung, dass davon der Kühlschrank plötzlich voll wird. Aber so geht das natürlich nicht. Es gibt aber diesen unglaublichen Eifer in den Hymnen die Zugehörigkeit zur europäisch-amerikanischen Wertegemeinschaft zu betonen. In Äthopien singt man z.B. "Respect for citizenship is strong in our Ethiopia” und "Firm of foundation, we do not dismiss humanness”. Man macht also bestimmten Begriffen eine sehr ausgedehnte Form von Aufwartung. Und das hat dann natürlich auch was von so einem kindlichen Gedichteaufsagen in der Hoffnung, man bekommt dann ein Fleißkärtchen dafür.
B: Oje…
A: Man freut sich auch ganz allgemein, ein souveräner Staat zu sein, im Kongo etwa, singt man schon fast calvinistisch: "Wir arbeiten freudig/Wir sind eine souveräne Nation"... denn Arbeit macht ja souverän und Souveränität ist Arbeit, man will also kein unsouveräner Unglücksstaat mehr sein – Zitat – "ein Kongo, das nie mehr scheitern wird". Es ist also ganz viel Freude in Hymnen, man kann hineingreifen, meint man, und die Freude anfassen, gewissermaßen. Beispiel Turkmenistan, wo von sich selbst ja gesagt wird: "Native land, sovereign state, a symbol of the great neutral country flies". Man ist also auch neutral, das heißt unbedrohlich. Man will also ganz praktisch Investoren anlocken per Hymne. Der Funke soll also überspringen.
B: Funke...
A: Der Irak wiederum glaubt von sich "Legendär an Ruhm, Energie und Toleranz" zu sein. Und Trinidad und Tobago versichern dem westlichen Zuhörer: "Jeder Glaube und jedes Geschlecht mögen hier Raum finden"…, ja, es ist also jeder eingeladen....
B: Kiffen?
A: Vielleicht.
A: Prosperität ist ein unvergänglicher Gedanke. Viele Hymnen arbeiten in eine Ewigkeitsperspektive hinein. Man kann sagen, weil das Universum ewig ist... also circa ewig.
B: Aber dann ist doch...
A: Lassen Sie mich doch mal ausreden! Man will auf einmal an dieser unglaublichen Prosperität, diesen Urknallfluchtlinien des Gedeihens teilhaben: Bergson, ja, die Dauer, ja. Beständigkeit, ja. Es soll sich also lohnen.
B: Ja, schon… Beständigkeit ist ja wichtig…
A: Wissen Sie was das Phantastische an Hymnen ist?
B: Nein.
A: Dass sie auf uns zukommen wie eine Wand.
B: Eine Wand?
A: Ja, eine Wand, die dann plötzlich vor uns steht und die uns umarmen will. Und wir lachen... das schafft die doch nie! Und sie schafft es doch... seid umschlungen Millionen... und wir können gar nicht anders als umschlungen zu sein. Es ist das was der Engländer "the milk of human kindness" nennt, also die Milch der menschlichen Gattungszugehörigkeit, die dann aus unseren Eutern fließt... auf diesen sanften aber bestimmten Händedruck hin. Ich glaube, dass diese Welt ein besserer Ort sein könnte, wenn wir alle so wären, wie wir in den Hymnen sein sollen. Ich glaube, dass die Hymnen etwas zutiefst menschliches sind.
B: Etwas zutiefst menschliches?
A: Ja, und zwar in jedem Wortsinne.
(Händedruck. Ab.)
Text: monochrom
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