Notizen eines King Crimson-Ironikers

Von Frank Apunkt Schneider
 
 
Die Quecke
 
Sie haben extra für mich Papier und Bleistift gemacht, so dass ich das hier aufschreiben kann. Ich schreibe es für niemanden und niemand wird es lesen. Auch nicht für mich, denn „Ich“ liegt wie ein ausgebranntes Wrack irgendwo dahinten, an jenem verloschenen Ort, von dem ich mich mit einer Geschwindigkeit weit jenseits derjenigen des Lichtes wegbewege. Es ist vertilgt worden wie ein lästiges Insekt, ausgelöscht gemeinsam mit der Rasse, der Lebensform, der Welt und der Kultur, die es hervorgebracht haben. Ich bin wohl der letzte dieser Lebensform und dieser Welt und werde durch das lautlose, wie gefroren vor meinem Fenster liegende und doch auf sonderbare Weise vibrierende All getragen. Seine Wunder sind unbeschreiblich, vergleichbar mit nichts, was wir Menschen darüber zu wissen glaubten, und ich finde auch keine Worte dafür. All das, was hier passiert und woran wir teilnahmslos vorübergleiten, führt mir mit gleichgültiger Geste die Klobigkeit jener Sprache vor Augen, in der ich mich seit fast 35 Jahren eingerichtet habe. 
Die Quecken, an Bord deren Raumschiff ich mich befinde, kümmern sich um meine Bedürfnisse. Sie heißen natürlich nicht „Quecken“, ich nenne sie nur so, um noch ab und zu an mein früheres Lieblingsbuch – die „Tausend Plateaus“ – erinnert zu werden, und weil ich es auch irgendwie passend finde. Ihr richtiger Name lässt sich in unserer, das heißt meiner Sprache nicht wiedergeben. Er ist irgendwie nicht linear, ein Wort das sich ständig verändert, das möglicherweise auf eine sehr fremde und seltsame Art in sich organisch, lebendig ist.
Genaueres weiß ich nicht, sie haben versucht es mir zu erklären, aber ich fürchte mein Verstand reicht dafür nicht aus. Überhaupt scheint die von ihnen benutzte Sprache multi-dimensional zu sein und nicht wie die der Menschen bloß aus akustischen Signalen zu bestehen. Wenn sie >>sprechen<<, geschehen seltsame Dinge um sie herum.
Sinn und Zweck des Seins und aller Kultur der „Quecken“ scheint, wenn ich sie richtig verstehe, darin zu bestehen, eine Hypothese über das Universum zu beweisen, wie sie in ähnlicher Form auch die theoretische Physik der Erde formuliert hatte: Der Raum ist in sich gekrümmt, und wenn man sich nun von einem gegebenen Punkt aus immer geradlinig in eine bestimmte Richtung bewegt, so gelangt man theoretisch irgendwann einmal wieder zurück an den Ausgangspunkt. In etwa so wie man ja auch einmal um die Erde herum laufen kann und idealerweise wieder da ankommt, von wo aus man gestartet ist. Natürlich braucht ein solches Experiment in kosmischer Dimension auch eine unendlich lange, quasi kosmische Zeit.
Vor vielen Jahrmilliarden – eine Zahlangabe, die ich völlig willkürlich mache und die nur die Unvorstellbarkeit dieses Zeitraums verdeutlichen soll – haben sich die „Quecken“ von ihrer Heimat irgendwo im Universum aufgemacht, haben sie verlassen, um genau jene Reise anzutreten, die sie wieder an den Ausgangspunkt, ihren Heimatplaneten – oder von was für einer Art kosmischen Körpers sie auch immer herstammen – führen wird. Seither sind Milliarden Generationen der „Quecken“ geboren worden und gestorben. Das, obwohl sie selbst schon eine verglichen mit uns Menschen quasi-astronomische Lebensspanne haben! Ihre gesamte Kultur, ihre gesamte Mythologie ist auf diese Reise und die ihr zugrundeliegende Kugelgestalt-Hypothese des Raumes hin angelegt. Und ich befürchte fast, es wäre ein tödlicher Schlag für die „Quecken“, wenn sie sich als falsch erwiese, aber das kann sie sich ja zu ihrem Glück nie.
Irgendwann unterwegs ist dann aber wohl ein Problem aufgetaucht. In dem unendlichen Zeitraum, den sie nun schon unterwegs sind, sind irgendwie die Bezugs-Koordinaten ihres Ausgangspunktes aus ihrem kulturellen Gedächtnis und aus ihren Datenbänken verschwunden. Sie wissen nicht mehr, wo sie sich nun befinden und wo jener Punkt eigentlich 
liegt, zu dem sie wieder zurück gelangen wollen, keinerlei Erkennungsmuster hat sich ihnen erhalten.
So haben sie beschlossen, einen neuen Ausgangspunkt zu wählen und ihre Reise noch einmal von vorne zu beginnen. Ausgerechnet auf die Erde fiel ihre Wahl als dem nächstgelegenen, für ihre Zwecke geeigneten solchen Punkt, und sie ist nun das neue Ziel, von dem aus sie sich unendlich wegbewegen wollen, um so schließlich zu ihm wieder zurückzugelangen.
Allerdings haben sie dieses Mal vorgesorgt und die Erde markiert, indem sie sie irgendwie so präpariert haben, dass sie sie nicht nur wiedererkennen können, sondern sie auch vor jeglicher Vergänglichkeit bewahrt, indem gewisse Vorkehrungen getroffen wurden. Eine davon war die Vernichtung jeglichen Lebens, da biologisches Leben ja eine jener Unwägbarkeiten wäre, die es auszuschließen galt. Auch darauf, dass keine den „Quecken“ bekannte Form von Leben jemals wieder auf der Erde entstehen oder sich festsetzen könnte, ist geachtet worden. Eine Art Schutzschicht macht sie immun gegen die äußeren Einflüsse des Raumes, so dass ihr weder kosmische Objekte, noch irgendeine bekannte Form von Technologie etwas anhaben kann. Der Untergang der Sonne, die Geburt einer neuen – all das berührt sie nun nicht mehr, wie mir die „Quecken“ in einer absonderlich-fiependen Aufgeregtheit versichert haben. Außerdem wurde sie angehalten, sie ist nun ein kosmischer Fixpunkt, den Bewegungsschemen und -formen des Alls entzogen.
Warum sie mich an Bord ihres Raumschiffes entführt haben? Ich weiß es nicht, ich denke sie brauchen mich als letzte Vertreterin meiner Art für den Aufbau einer neuen und geeigneten Mythologie, die sie mit dem neugewählten Ort verbindet, denn schon, stelle ich mir vor, beginnt die Besatzung zu murren und das Gerücht, dass das Volk der „Quecken“ gar keinen Ursprung und kein Ziel habe, sondern vielmehr schon immer durch den Raum treibe, webt sein Netz durch die Eingeweide desjenigen Objektes, dass ich nur der Einfachheit halber als Raumschiff bezeichnet habe.
Meine Zelle ist am ehesten vergleichbar mit einem Bernsteinklumpen, in den ich eingeschweißt zu sein scheine. Ich kann mich nicht bewegen, nur meine Hände vermitteln mir das Gefühl, dies hier niederzuschreiben, auf dem Papier, das ich von ihnen erhalten habe. Vielleicht ist es auch nur ein Traum, ein komatöser Zustand, in dem ich mich befinde. Möglicherweise sogar der Tod bzw. das berühmte Leben danach. Ich kann nur wiedergeben, was ich an Informationen durch die „Quecken“ bekomme, bzw. zu bekommen glaube. Sie sind freundlich zu mir, natürlich kann ich sie weder sehen, noch hören, aber ich spüre, sie sind da und sie erzählen mir von sich.
Durch die trübe Hülle, die mich umschließt, kann ich nach draußen sehen, sie scheint unmittelbar an den Raum zu grenzen wie als wäre sie selbst die Außenhaut des Schiffes. Hindurch sehe ich auf die Schönheiten des Alls, unglaubliche Dinge. Aus einem Schwarm dieser violetten und wie Fische in langen formationsähnlichen Reihen den Raum durchziehenden Objekte, von denen ich nicht sagen kann, was das wohl ist, und die mich am ehesten noch an aufgeblähte menschliche Organe erinnern, löst sich eines und schwimmt zu mir herüber. Es gibt hier draußen Myriaden davon. Direkt vor meinem Gesicht verharrt es und schaukelt ein wenig gleichmäßig hin und her. Dabei scheint es mich anzublicken, lange und neugierig, dreht dann aber plötzlich wie kopfschüttelnd bei und verschwindet in der Unendlichkeit.