MATHIAS HORX/ADD N to X:
Die Dialektik der Ausstellung
Wer vom Geben sprechen will, der darf vom Nehmen nicht Schweigen. Denn: Abwesenheit und Präsenz sind zärtliche Cousinen in einer dreifaltigen Welt.
Erst im Akt der Entwendung aber, als solcher nicht unverwerflich, gleichviel, wird es nun möglich sein, qua Wanderausstellung global präsent zu sein. Die Menschen da zu erreichen, wo sie sind, z.B. in Frankfurt, Washington, Düsseldorf, Köln, New York, Paris, Genua oder eben: Wien. Um nur einige zu nennen. Jenun! Und: Gibt es ein anderes Eigentum an der Kunst als den zur Mediatisierung verpflichtenden Besitz? Kann es angehen, wertvolle Kunstschätze und kunsthistorische Preziosen, wie vorgelegt, Gesellschaften unoffenen Typs zu eigenem Gebrauch, der zumeist ja doch bloß ein Verschluss sein wird, zu überlassen. Jein und nochmals Jein! Ein Ding zu denken und kein Ding zu denken, wobei Sichtbarkeit als Substrat der Denkbarkeit immer schon vorausgesetzt sei, bedarf mitunter der Anwendung eines gesamtmenschheitlichen Rechtsbegriffs: Wo öffentliches Interesse auf den nur natürlichen Egoismus von Ethnien trifft, sollten nicht vorschnell Präzendensfälle geschaffen, sondern dies sorgsam auf den Prüfstand kulturell sedimentierter Erfahrung gewogen werden. Kolonialismus ist ein Wort, das heute eine negativen „Touch“ hat. Viele Menschen fühlen sich in seinem Bedeutungsumkreis unwohl, meinen sich erinnert an eines der dunkelsten Kapitel des Hegel’schen Weltgeistes. Doch vergessen wir nicht: Es geht hier nicht um Rohstoffe oder Billigarbeitskräfte mit oder ohne Aufenthaltserlaubnis, die reingesaugt werden, um damit mit unseren Volkswirtschaften Vollgas zu geben. Nein, hier geht es um Kultur. Also um Geschichte. Um das menschliche Vermögen schlechthin. Um das, was Bill Gates oder Joe Cocker mit den armseligen und bedauernswerten Kamelbetreibern des Morgenlandes verbindet, über alle berechtigten ethnischen Einzel-Interessen (Wohlstand, Glück, Zufriedenheit, Raum, Südfrüchte, okaye Gewinnmargen) hinaus. Die Inobhutnahme persischen Kulturgutes, aufgrund von abstrusen kulturethnographischen Sonderwegen leicht weltabgewandter Scheiche und Mulas bis dato nur gerüchteförmig präsent, ist damit ein zwar aggressiver, doch zugleich aufklärerischer Akt. Aufklärung im Sinne von Durchleuchtung und Rampenlicht. Der Sehsinn ist der menschliche Sinn schlechthin, das wird jeder bestätigen. Ihm etwas vorzuenthalten, grenzt an Betrug. Gerade, wo es um Wissensarchäologie geht.
Nichts erschwert die Arbeit unserer Kulturwissenschaftler
und Kulturwissenschaftlerinnen indes mehr als derartiger eigenbrödlerischer
Klüngel, wie er in traditionell dem Schleier zuneigenden Gesellschaften am Rande
eines virtuellen, argumentförmigen Europas seit Jahrhunderten Konjunktur hat.
Geschichte wiederholt sich hier unter anderen Vorzeichen, während es den mittelalterlichen
Interventionisten um Hector LaRoche nicht gelungen war, ein allgemeinmenschliches,
öffentliches Interesse am von gewaltbereiten Islamisten besetzten Jerusalem
den nötigen militärhistorischen Nachdruck zu verleihen, so hat sich heute das
Blatt gewandelt. Doch vergessen wir nicht: Sichtbarkeit ist immer eine Form
von Gewalt. Jede räumlich-geographische Ausdehnung eines gegebenen Objektes
ist mithin die Entscheidung gegen eine andere. Die Frage ist nur, und sie muss,
auch wenn es manchem Gutmensch missfallen möchte, auf die Agenda rauf, welche
Präsenzform den weltumspannenden Prozessen wie Kreditkarte, CNN, Kentucky Fried
Chicken und Joe Cocker adäquat ist und welche sich als Anachronismus outet.
Dieser Adäquanzgedanke mag über den befundproblematischen Verlust des Kontextes
jener hier zu sehenden Werke menschlichen Kunstwollens hinwegtrösten, auch jene
Kritik, die sich unversöhnlich gibt an der Deterritorialisierung, wie sie uns
Menschen des westlichen Schlages nun einmal in die Wiege gelegt ist, kann dies
unterschreiben. Wo nicht, da erweist sie sich als Bremserin. Alles andere wäre
Immobilität und kulturelle Implosion, wie wir sie überall da erleben, wo die
Bereitschaft lokale Tradition in globale Prozessualität einzuspeisen nur in
einem geringen Maße vorhanden ist. Ich brauche Sie, liebe Ausstellungsbesucher
nebst weiblichem Anhang als relativ hochwertige Angehörige einer Weltgemeinschaft
– ganz gleich ob Sie schwarz oder weiß sind oder gelb oder rot – nicht eigens
darauf hinzuweisen, dass allein diese Form Zukunft schafft, eine Zukunft, die,
und da kommt jetzt der bekannte Zukunftsforscher in mir durch, wir ja nur von
unseren Kindern geborgt haben, die dialektischerweise ja diese Zukunft in Personalunion
sind. Anspruch und heraufgrauende Wirklichkeit fallen hier zusammen.
Und: Hätten Sie es gedacht!? Amerikanische Wissenschaftler
und Wissenschaftlerinnen haben herausgefunden: Noch nie haben zwei Nationen
miteinander im Krieg gelegen, in denen es Mac Donald’s-Filialen gibt! Guatemala,
Serbien, Grenada, Vietnam, Korea, Irak, Afghanistan, Hiroshima, das Bikini Atoll,
Nicaragua, Mexiko, El Salvador – merken Sie was!?!
Und in diesem Sinne möchte ich diese zwar inhaltlich
nicht ganz korrekte, aber als Botschaft unmissverständliche Wanderausstellung
mit traditionellem irakischen Modeschmuck verstanden wissen: als Mischung aus
Wanderausstellung und Friedenstaube. Wo sie hinkommt, soll sie einen Ölzweig
weiterreichen, ein Band des Friedens knüpfen. Einen Kanon singen und einen Staffellauf
inszenieren. Aus bekannten, ja kanonischen Gründen!
Wir befinden uns heute immerhin in einem Übergangsprozess
von einem in das andere Gesellschaftssystem. Das Industrie-Zeitalter verabschiedet
sich, vor uns steht die Wissensgesellschaft. Die Wissensgesellschaft aber ist
ein gewaltiger zivilisatorischer Fortschritt. Dazu gehört neben Grundkenntnissen
in Photoshop und einem CD-Brenner auch kulturelles Wissen als wichtigster Zukunftsrohstoff
nach Erdöl, Wasser, Luft, etc.. Wurden früher Kriege nur um was ich materielle
Rohstoffe nennen möchte geführt, so werden in Zukunft v.a. auch immaterielle
Rohstoffe auf dem Programm stehen. Das können wir übrigens von den alten Römern
lernen, lediglich die imperialistischen Kolonialmächte aus den Tagen der Kolonialkriege
haben vergessen oder verdrängt, dass es eben nicht nur um Dinge geht, die in
der Erde wachsen, sondern auch darum, was in den Köpfen der Menschen wächst,
wenn sie mir diese kleine Metapher erlauben. Ideen sind ein solcher wichtiger
Rohstoff, haben Sie gewusst, dass die Eskimos – ich weiß jetzt nicht wieviel
genau, aber sehr viele verschiedene Wörter für Schnee haben? Dieses kreative
Potential gilt es abzuholen, d.h. einzusammeln. Und das findet sich überall
auf der Welt, selbst in Ländern, wo man denkt, da gibt es nur Aids oder sowas,
haben die Leute vielleicht noch eine interessante Idee, z.B. einen verfilmbaren
Mythos über den Ursprung der Welt (z.B., dass das Universum entstanden ist,
weil Gott einen Ameisenhaufen gefickt hat, ich weiß jetzt nicht wo der herkommt,
aber irgendwo von da unten halt). Das nenne ich Mythos, nicht so schlappes Christentum.
Und diesen Ideenreichtum, diesen Phantasievorrat, diese epistemologisch erfrischende
Andersheit, dieses um die Ecke denken brauchen wir, um als Weltgemeinschaft
überleben zu können, auch in Situationen, die erstmal nicht so rosig aussehen.
Z.B. wenn ein riesiger Komet auf die Erde zurast oder bei einer Invasion mit
Außerirdischen, die sich als Parasiten in unsere Körper einnisten. Oder bei
einer Klimakatastrophe. Gerade wir Europäer und Europäerinnen wissen ja, das
man nicht zweimal in den selben Fluss steigen sollte. Wir brauchen da gar nicht
so tun, als hätten wir eine zweite Chance im Keller.
Nun ja, und diese Wissensgesellschaft basiert
allerdings auf einer neuen Kultur der lebenslangen Bildung. Des Herumgereichtwerdens
– merken Sie was!?. Einem Gesellschaftskonstrukt, in dem der Einzelne mehr Verantwortungen
hat, weil die alten Bindungen, die die industrielle Welt prägten – in Klassen,
Schichten, Alltagsnormen, Gewerkschaften, Traditionsehen, Integritätsmodelle
und regional-kulturelle Eigentumsbegriffe – nicht mehr funktionieren. Gleichzeitig
bedeutet das jedoch neue Wahlmöglichkeiten, einen „Reichtum“ im Sinne von mehr
Lebensqualität (also auch: Erlebensqualität), mehr Individualität, mehr Selbstbestimmung.
Kurz: Wenn ich mir heute in sagen wir in irgendeiner Stadt der Welt: z.B. Helsinki,
Barcelona, Athen, Edinburgh, Oklahoma City oder Hamburg diese Ausstellung hier
ansehen will, dann muss die Ausstellung auch liefern. Die muss was können! Im
Klartext: Vor Ort sein. Was nutzt es mir, wenn das Zeugs dann da in einem Land
rumliegt, wo es noch nicht einmal flächendeckend Internet gibt, also auch keine
Demokratie oder Menschenrechte oder Rockmusik. Das, was wir heute erleben, die
Krise der sozialen und kulturellen Systeme, der Bildung, der Politik, insbesondere
der Außenpolitik und der UNO ist eine unvermeidbare Begleiterscheinung dieses
Übergangs. Auf diese Herausforderung haben andere Länder schon vor Jahren reagiert,
indem sie ihr Rentensystem konsequent umgebaut, in die Bildung und den Kulturwarentransfer,
der halt nicht immer ein Kulturwarentransfair sein kann, wo gehobelt wird fallen
eben Späne, investiert und die Sozialsysteme gehärtet und nachhaltig gemacht
haben.
Leider gibt es hierzulande heute kaum einen
aktiven Kulturtheoretiker, der diesen Wandel als ganzes visionär ausdrücken
und nach vorn bringen kann. Es sind eher die charismatischen Alten wie Oswald
Spengler oder Ayn Rand, die die Sprache der Zukunft sprechen – oft gegen ihre
eigene Sozialisation! Deshalb werden uns von allen Seiten nur die negativen
Seiten dieses Wandels vor die Haustüre gekippt – in diesem Brei rühren wir derzeit
ratlos herum. Blockade und gegenseitige Schuldzuweisungen scheinen zurzeit die
Kulturlandschaft zu bestimmen. Aber: Wie lange können wir es uns noch erlauben,
Chancen und Reformen unbenutzt zu lassen? Solange, meine ich, wie sich Jammern
auf hohem Niveau noch rechnet. Es gibt ein altes Sprichwort: „Der Narr klagt,
solange ihm Zuhörer und natürlich auch Zuhörerinnen gewiss sind.“ Eine Frage,
die mir oft gestellt wird, meistens von mir selbst: Wie kann es gelingen, Kulturtheoretiker
und Lobbyisten davon zu überzeugen, jetzt die Chance auf Erneuerung zu ergreifen?
Ich glaube nicht, dass man jemanden überzeugen kann, der das nicht in sich spürt.
Ich befürchte wir brauchen eine neue Generation von Kulturtheoretikern und wegen
mir auch Kulturtheoretikerinnen. Eine Generation von „neuen visionären Pragmatikern“,
die die Zusammenhänge verstehen. Und begreifen, dass sich die Lager-Kategorien,
die Links-Rechts-Schablonen überholt haben. Kaiser Wilhelm hat das begriffen,
als er sagte: „Ich sehe keine Parteien mehr, ich sehe nur noch Deutsche“. Aber
ich fürchte, wir sind nach 1918 wieder in die alten Lagersysteme zurückgefallen.
Im Moment steht die Menschheit ja schlecht da. Ich sehe in einer solchen globalen
Katastrophe auch Chancen. Welche? Die Botschaft der Klimakatastrophe lautet
ja: der Markt funktioniert nicht mehr, er muss sich erneuern. Die humanitären
Nebenkosten sind zu hoch. Jetzt ist die Stunde der Wahrheit. Kulturgeschichtliche
Zeugnisse aus komischen Ländern, die eher eine nicht so große Rolle spielen,
werden nur angenommen, wenn sie tatsächlich einen Vorteil für den Museumsbesucher
und die Museumsbesucherin bieten. Rezeptionskonzepte werden nur dann angenommen,
wenn Ausstellungsbesucher sie tatsächlich benutzen wollen. Repräsentationskontexte
werden nur dann überleben, wenn sie die Moralbürokratie, die sich in ihrem Begründungszusammenhang
gebildet hat, radikal verschlanken. Jetzt, in der Krise des Abbilds, trennt
sich die Spreu vom Weizen und wir können sehen, welche Kreativität eine echte
Idee, eine Vision hat und wer nur imitiert oder versucht „mitzuverdienen“. Zunehmende
Technologisierung, fortschreitende Globalisierung: Die Entwicklungen auf diesen
Gebieten werden von vielen eher ängstlich verfolgt, sogar teilweise ja strafrechtlich,
wir hätten ja fast eine Anzeige gekriegt wegen Kunstschmuggels, das muss man
sich mal vorstellen in einer Welt, in der Grenzen ja nur noch osmotische Staustufen
sind, um mögliche Überflutungen am Zielort zurückzudämmen. Hier sehe ich Chancen
wie auch Gefahren. Doch wo letzteres ist, wächst ersteres auch, hat Brecht mal
gesagt, den ich ganz ohne Scheuklappen hier mal zitiere. Das ist so, als wenn
Sie beim Autofahren bei jedem Straßenbaum in die Hose machen vor lauter Angst,
dagegen zu fahren... Natürlich ist der Weg in die globale Wissensgesellschaft
ein „bumpy way“. Da platzt schon mal der eine oder andere Reifen und am Rand
bleiben so ein paar Gescheiterte liegen. Aber wir müssen nicht sehr lange nachdenken,
um zu verstehen, welche gewaltigen Vorteile uns Globalität und Technologie bereits
geliefert haben. Auf die andere Seite der Welt fliegen zu können, ist eine unglaubliche
Erfahrung für uns Nordhemisphärenbewohner und Nordhemisphärenbewohnerinnen.
Fremdes Essen oder Elend, fremde Sitten kennen zu lernen ein Privileg. Fremde
Kunstschätze heim in die Welt zuführen, ein Triumph gegenüber den Patriarchen,
die sie in ihren Palästen ja vergraben möchten. Den Technologiefeinden halte
ich immer die Frage entgegen: In welchem Jahr der Vergangenheit wären Sie gerne
zum Zahnarzt gegangen? Dann fällt ihnen nichts mehr ein...Aber natürlich müssen
wir gleichzeitig lernen, wieder gut Zähen zu putzen. Und allzu viele Süßigkeiten
bleiben ungesund, auch wenn es heute hochtechnisierte Wellness-Zahnärzte gibt...
Die Zusammenkunft ist möglich. Wider den Zeitgeist
der Erbsenzählerei.
P.S.: Wir brauchen außerdem eine neue Generation
von Politikern!
Mathias Horx gilt als einer der einflussreichsten
Trend- und Zukunftsforscher im deutschsprachigen Raum. 1996 gründete er das
Zukunftsinstitut mit Hauptsitz in Kelkheim bei Frankfurt. Hier werden Szenarien
für Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Dieter Gorny erarbeitet. Das Forscher-Team
analysiert, dokumentiert und erklärt Veränderungsprozesse. Dabei geht es Horx
vor allem darum, aktiv auf den Wandel vorzubereiten – statt ängstlich in die
Zukunft zu schauen. Horx wurde 1955 in Düsseldorf geboren. Nach seinem Studium
arbeitete er als Autor und Redakteur, u.a. für Tempo, Junge Freiheit, Intro
und die Zeit. 1993 gründete der gelernte Soziologe das Trendbüro Hamburg, das
er drei Jahre später verließ, um das Zukunftsinstitut ins Leben zu rufen.