|
Das Märchen von
dem Mädchen aus der Unterschicht und dem bösen Bürstengeschäft.
Ein Mädchen aus der
Unterschicht ging eines Tages im Regen spazieren, wie es die Menschen bisweilen
tun, wenn sie ihren Gedanken ein wenig Auslauf verschaffen wollen.
Es war ein leichter, feingesponnener,
ein melancholischer Regen.
Müde war sie erst vor
einer Stunde von ihrer Arbeit in der Knochenmühle zurückgekommen,
wo sie täglich acht Stunden an der Stampfe stand. Die Stampfe war
ein dunkler, unfreundlicher Ort, an dem keiner gerne arbeiten mochte. Sie
bestand ganz einfach aus zwei riesigen Mahlsteinen, einer auf einer im
Boden eingelassenen Stange angebracht und einer an der Decke, den konnte
man durch die Betätigung eines Hebels auf den ersten heruntersausen
lassen. Nun war das Mädchen tagein, tagaus, damit zugange die Knochen
und Schädel und Gebeine, die täglich in unglaublicher Zahl angeliefert
wurden, seit das große Sterben in den Außenbezirken der Stadt
wütete, auf den unteren der Mahlsteine zu schaufeln. Riesige Loren
karrten ohne Unterlaß die Knochen und Schädel und Gebeine herbei.
War der Mahlstein voll, zog sie an dem Hebel und rummmmmmms! sauste der
andere Mahlstein von der Decke herab und haute alles zu feinem Staub. Mit
einem zweiten Hebel fuhr sie sodann die Ansaugrohre aus, die das Knochenmehl
eingesogen und zur Weiterverarbeitung in die entsprechenden Abteilungen
leiteten.
Wenn das Mädchen aus
der Unterschicht abends nach Hause in ihre kleine Einzimmerwohnung kam,
war sie stets unendlich müde und nur noch selten holte sie in den
letzten Wochen ihr Notizbüchlein heraus, um darein kleine, viereckige
Gedichte zu kritzeln, denn dies war die einzige Vergnügung, die ihr
karges Dasein kannte, meist starrte sie nur dumpf-brütend vor sich
hin, die kleinen, viereckigen Gedichte waren versiegt und wenn sie sich
doch einmal aufraffen konnte, in ihr Notizbüchlein zu schreiben, so
standen am Ende doch nur fühllose und ungefüge Wortklumpen da,
aber keine kleinen, viereckigen Gedichte, wie sie sie zu verfertigen liebte.
Und da riß sie die Seite heraus und warf sie zu den andern in den
Papierkorb.
Heute jedoch hatte sie jener
leichte und feingesponnene, ja jener melancholische Regen dazu bewogen,
noch einmal die Wohnung zu verlassen und ein wenig in ihm herumzugehen.
Eine Schlagerzeile aus dem letzten Jahrhundert ging ihr im Kopf herum,
sie wußte nicht zu welchem Lied diese gehörte, wie eine Walze
drehte sie sich ständig um die eigene Achse, wiederholte sich immer
und immer wieder und erzeugte einen leiernden, dabei aber einnehmenden
Rhythmus, wie man ihn aus den Schlagern der Gegenwart kennt: „...oder durch
San Francisco mit zerriss‘nen Jeans“. Was sie bedeuten sollte, in welchem
Lied sie einmal welchen Sinn ergeben hatte, das war ihr entfallen und nur
diese eine Zeile war übriggeblieben.
Dem leichten Spiel ihrer
Gedanken hingegeben, ging sie, fast schon mit sich und der Welt versöhnt,
durch die kleine Vorstadt, in der sie lebte, als urplötzlich der Regen
anzog und sich von einem Augenblick zum nächsten zu orkanartigem Sturz
verdichtete.
Sie hatte keinen Schirm
bei sich und nach kaum einer Minute war sie über und über durchnäßt.
Auch krakeelte mit einem Mal ein peitschender Wind um die Häuser und
die Marquisen und Zunftschilder der Läden kreischten und knirschten
in ihren jahrhundertealten Verfugungen. Schwärze goß sich in
die Straßen, alles Sonnenlicht und alle Ladenbeleuchtung ersäuften
die Wassermaßen und plötzlich war alles menschenleer, trotz
allerbester Einkaufszeit in allerbester Gegend.
Als sie noch überlegte,
ob sie Unterschlupf oder schleunigst das Weite suchen sollte, merkte sie,
daß sie ihren Wohnungsschlüssel mit der kleinen grünen
Discokugel daran zuhause auf der Anrichte hatte liegen gelassen. Ein greller
Schreck keilte sich in ihre schon klammen Glieder.
So sah sie sich um, versuchte
durch die stobenden Schleier, die der Wind in die Straßen warf, etwas
zu erkennen; – Wohin sollte sie gehen? Es gab niemand in dieser Gegend,
den sie kannte und bei dem sie hätte unterkriechen können für
die Dauer des Unwetters. Sie beschloß, in einem Geschäft das
Schlimmste abzuwarten und sich dann um das Weitere und Nötige zu bekümmern.
Sie drückte die erstbeste
Ladentür, das Reisebüro Adolf Schlump, aber nein, es war geschlossen,
ein kleines Schildchen an der Türe verwies auf einen Trauerfall im
engsten Familienkreis.
Desgleichen die Hofbäckerei
Adolf Worms, gleich nebenan gelegen, auch hier baumelte ein „Trauerfall“-Schild
lose hinterm Türglas, und auch hier hatte sich dieser „in engstem
Familienkreis“ zugetragen. Wehmütig sah das Mädchen auf die massiven
Gutsherrn-Torten, die im Schaufenster wie höhnisch strotzten.
Als sie auch das Sanitätsgeschäft
Adolf Karpendiem geschlossen fand und, das werdet ihr hier wohl schon ahnen,
dies mit einem „Trauerfall im engsten Familienkreis“ begründet war,
wurde dem Mädchen aus der Unterschicht ein wenig bang, ja mulmig zumute.
Was hatte das zu bedeuten? Sie lief die Ladenzeile entlang und starrte
fassungslos auf die sich aneinanderreihenden Trauerfall-Schildchen, bei
Numismatikbedarf Adolf Eschede ebenso wie bei der Tierhandlung Adolf Moralek
und so weiter und so fort.
Als sie nun fast schon verzweifeln
wollte, stieß sie, mehr aus Zufall doch noch auf eine Ladentüre,
die ihrem Druck nachgab und sich knarrend öffnete. Es war diejenige
des alteingessenen Bürstengeschäftes Adolf Mollusk, über
das man in der Stadt allerdings merkwürdige Gerüchte umliefen.
Daß die Ladenmädchen, die dort beschäftigt waren, stets
auf unerklärliche Weise verschwanden, wollte man wissen, ja, manche
raunten sogar, daß die Borsten der Bürsten, die der Herr Adolf
Mollusk feilhielt, aus den Haaren der Verschwundenen verfertigt waren.
Die Bürsten des Herrn Adolf waren nämlich sehr bekannt und vielgerühmt
für ihre >>hochwertige Hygieneleistung<<, wie es ein Schild
in der Auslage des Geschäftes selbst ein wenig steif und altmodisch
herausposaunte. Ja, die Bürsten des Herrn Bürstenmachers Adolf
Mollusk waren die besten Bürsten der ganzen Stadt, sagte man. Und
wenn man das sagte, konnte man sich allgemeiner Zustimmung versichert sein.
Und, wen interessiert schon so ein dahergelaufenes Ladenmädchen, wenn
einer so erstklassige Bürsten macht, so war die gängige Meinung,
Bürsten mit einer so >>hochwertigen Hygieneleistung<< setzte
man dann noch humorig zitierend hinzu, denn ein so altbacken-rustikaler
Slogan mußte freilich den Spott der modern und zeitgenössisch
empfindenden Bewohner und Bewohnerinnen der Stadt heraufbeschwören,
aber die Bürsten, ja die, die waren wirklich gut.
Die Ermittlungen der Polizeibeamten
betreffs der spurlos verschwunden und wie vom Erdboden verschluckten Ladenmädchen
hatten nie zu einem eindeutigen Ergebnis geführt und der Herr Adolf
Mollusk gab stets zu Protokoll, er vermute, die Ladenmädchen, die
er stets vom äußersten Lande zu holen pflegte, seien ins Getriebe
der nahen Großstadt geraten, seien dort deren Verlockungen erlegen
und in die unterirdischen Bezirke, darüber die städtische Beamtenschaft
die Kontrolle schon längst verloren hatte, abgetaucht; und mehr wisse
er da auch nicht. Eine Untat, egal welcher Art, war ihm jedenfalls nie
nachzuweisen gewesen, auch wenn die Ladenmädchen, es dürften
damals wohl um die 20 oder sogar 30 gewesen sein, allesamt verschwunden
blieben. Sonst galt der Ladeninhaber trotz energisch und engagiert geführten
Vorsitzes des Stammtisches des Einzelhandels 1840 im Gasthaus Adolf Menschel
als zurückhaltend, spröde, sonderlich und unnahbar, jedenfalls
aber als faktisch unbescholten.
Als nun das Mädchen
aus der Unterschicht dies alles bedenkend doch der Not der Situation gehorchend
eintrat und das Ladenglöcklein müde seine beiden Töne mehr
rasselte, denn schlug, kam auch sogleich aus hintenliegenden Gemächern
der Herr Adolf Mollusk selbst herangelaufen, machte einen kratzfüßigen
Bückling und blickte die Eingetretene unverwandt an. Ringsum lagen
in dichten Stapeln und vom Staub schon halb überwuchert Bürsten,
Plastikeimer, Wedel, Scheuermittel, Spülschwämmchen und andere,
unbekannte oder längst vergessene Haushaltsartikel.
Der Herr Adolf Mollusk steckte
in einem grauen Kittel mit je zwei Seiten- und einer Brusttasche, darunter
eine kurze, beige Hose aus undeutlichem Material. Seine stark behaarten
Beine endeten in braunen Socken, vermutlich Polyester, ja ich erinnere
mich genau: es war wohl Polyester. Zuunterst Riemchensandalen, durch die
man das undurchsichtige zuckende Spiel der Zehen beobachten konnte. Einzeln
stehende Büschel weißen Haares, eines davon markanterweise lila
eingefärbt, hingen in zahlreichen Richtungen von seinem gleichzeitig
knallrot und kreidebleich leuchtenden Schädel. Sowohl in seiner Brust-
als auch jeweils in seinen seitlichen Kittel- und desweiteren sogar in
den beiden Gesäßtaschen hatte er, was ein wenig absurd wirkte,
jeweils einen Zollstock stecken und hielt auch noch zwei davon in jeder
Faust, als er nun auf das Mädchen zutrat und mit einer lächerlich
hohen, fiependen und dünnen Stimme fragte: „Sie wünschen, bitte!?!“
Das Mädchen konnte
nicht sogleich antworten, da der sonderbare Anblick des sonderbaren Herrn
Adolf Mollusk sie soweit aus der Fassung gebracht hatte, daß ihr
die Sprache wie abgestürzt war und quasi erst wieder auf ihre Festplatte
aufgespielt werden mußte, wenn Sie das Bild verstehen. Da sie nun
nicht anders konnte, als auf den Herrn Adolf Mollusk zu starren, sah dieser
verunsichert an sich herab und bemerkte den unziemlicherweise halb geöffnet
stehenden Reißverschluß seiner Hose und als er diesen, ein
wenig nun doch selbst auch peinlich berührt, schließen wollte,
wiederum das Bündel Zollstöcke in seinen Händen; das unmittelbaren
Zugriff stark erschwerte. Da warf er eine rappelnde Lache von sich und
schob erklärend hinterdrein: „Sie müssen entschuldigen, Fräulein,
ich mache gerade >>Inventur<<!“. Dabei jedoch grinste er so unverwandt
schmierig und das Wort >>Inventur<< kam mit einem so klirrenden Nachhall
hervor, als lauere dahinter etwas so unvorstellbar Grausiges, daß
keine Sprache der Welt ein Wort dafür bereithalte.
Dem Mädchen fröstelte.
Auch wäre sie gerne davongelaufen, als sie sich jedoch umwandte und
zur Ladentür blickte, da schwoll draußen der Regendonner mit
einem Mal noch um ungeahnte Grade stärker und gewaltiger an, wie als
wollte er ihr bedeuten, daß es hier um ein Schicksal ginge, dem man
nicht ausweichen konnte.
Jenseits der schützenden
Scheibe schien die Welt ein düstres Loch ohne Grund und die Straße
war schwarz von Wasser, das man nicht sah, nur hörte und dessen fast
unterseeischen Druck man meinte zu spüren, selbst hier drinnen noch;
ja, man hatte fast den Eindruck in einer Taucherglocke viele tausend Meter
unter dem Meer dahinzutreiben.
Da kratzte das Mädchen
all seinen Mut zusammen und bat darum, im Laden vom Herrn Adolf Mollusk
bleiben zu dürfen, bis das Unwetter vorüber sei.
„Aber ja, aber ja, mein
Kind!“, sagte der Herr Adolf Mollusk, „Hier nehmen sie sich ein Bonbon!
Greifen sie ruhig zu, sie kosten mich ja doch bloß zwei Pfennige
im Einkauf!“
Er langte ihr ein Bonbonglas
hin mit Bonbons, die staubig schmeckten, zog unter seinem Tresen ein alten,
abgewetzten Fußschemel hervor und schob ihn ihr zu: „Setzen Sie sich
doch, mein Kind!“, sagte er, dann rückte er sich selbst eine Holzkiste
heran, hockte sich darauf und begann plötzlich ansatzlos zu erzählen
und zu erzählen. Wie ein leise rasender Webstuhl redete er auf sie
ein, wie ein Automat spulte er die Worte hervor. Es waren widerliche Dinge,
die er sprach. Das widerwärtige und uninteressante Gesülze des
Einzelhändlers und Mittelständlers über Dinge des Geschäftes
und die dabei davongetragenen Siege, die daraus erwachsende Bedeutung der
Person, ihr Ansehen, die verkörperte Tradition. Davon auch sprach
er wie sein Urgroßvater einst dieses Geschäft begründet,
und davon, wie dieser seinen schärfsten Konkurrenten mit einer heimtückischen
Schliche übertrumpft hatte, daß dieser habe >>fallieren<<
müssen – ja, er benutzte tatsächlich diesen Begriff aus dem kaufmännischen
Wortschatz des vorvorigen Jahrhunderts. Dazwischen streute er anzügliche
Bemerkungen, die wenig Deutungsspielraum übrig ließen.
Jedoch, das Mädchen
hörte zu, ja, konnte nicht anders, mußte zuhören, wie gebannt.
Denn tatsächlich wie Sülze schlossen sie die Stimme und die Worte
des Herrn Adolf Mollusk ein in einen wie gallertartigen Zustand, sie fühlte
wie ihr Körper, ihre Glieder, ihre Augen und Ohren die Fühlung
für die Welt um sich her verloren und davongetragen wurden auf unbekanntem
Pfad, wie sie immer tiefer, immer tiefer und immer tiefer hinabsank in
eine konkonartige Starre. Die Worte quollen aus dem Mund des Herrn Adolf
Mollusk wie die Wassermassen des Wolkenbruchs aus dem Himmel und allmählich
verschwammen der Regen und die Geschichten zu ein und dem selben gleichmäßigen
Murmeln.
Und wie sie aufhörte,
sich gegen den Inhalt seiner Worte, der sie ekelte, zu sträuben, da
merkte sie wie ihnen ein betörender süßlicher Dunst entströmte,
der Gaukelbilder vor ihre schon flackernden Augen trieb.
Wie der Herr Adolf Mollusk
nun mit stolzgeschwellter Brust das Leben seines Ur-Groß-Onkels Medardus
zum Besten gab, der während des Ersten Weltkrieges über eine
Züricher Deckfirma die Britische Heeresleitung mit dem Fleisch von
Rindern versorgt hatte, die er vorher mit einem tödlichen Gift eingasen
ließ, das war ein Kerl! Ein Urbild von einem Geschäftsmann!
Es handelte sich um ein tödliches Gift, daß der Ur-Groß-Onkel,
der Chemiker gewesen war, auch selbst erfunden habe. Aufgenommen würde
dieses über die Atemschleimhäute der Tiere, von wo aus es ins
Blut und sodann Fleisch gelange, wo es sich ablagere; beim Verzehr durch
den Menschen wiederum bilde es Depots in den Fettzellen, wo es erst dann
freigesetzt würde, wenn oft Wochen, Monate nach der Einnahme, diese
Fettreserven vom Körper aufgezehrt würden. Die Agonie dauere
viele Tage und zu Tausenden hätten die Tommies im Graben gelegen mit
aufgequollenen Bäuchen und sich die Seele aus dem Leib geschrien und
keiner, keiner hätte ihnen mehr helfen können. Sein Vermögen
habe der Onkel damit in löblicher Weise um ein Beträchtliches
vermehrt und sich als wahrhafter Patriot unschätzbaren Verdienst um
das liebe Vaterland erworben.
Dann sprach er ganz unverblümt
vom rätselhaften Verschwinden der Ladenmädchen, die in seinem
Keller ein unsagbar schreckliches Ende genommen.
„Ach nein, ach nein, ein
Ladenmädchen vermißt heutzutage ja keiner mehr! Alle glauben,
sie wären in die große Stadt fort und dort verschütt gegangen,
ach nein, ach nein, ein Ladenmädchen vermißt heutzutage ja keiner
mehr!“, lamentierte der Herr Adolf Mollusk leiernd vor sich hin.
Das Mädchen indessen
beunruhigte dergleichen nicht, nein, sie fühlte sich sicher und warm
wie ein Kind im Schoße der Mutter. Denn diese doch so lachhafte Stimme
trug sie fort und fort und fort, hinweg über die Vorstadt, dann die
Stadt, über ihre Ränder, wo das große Sterben wütete,
über die zerstörten Landschaften Mitteleuropas und ihre Leichenberge
hinweg, fort, übers Mittelmeer, das von einer klaren und hellen Sonne
glasiert wurde, hinaus ins Land des Morgens, Arabien, voll von süßen,
kitzligen Düften, von den süßesten Düften, die die
Menschen je besessen. Da verwandelte sich all das Land, das unter ihr lag,
in eine köstliche Frucht, in die sie hineinsank, die sie aufnahm,
die sich um sie schloß und aus deren Fruchtfleisch, als sie erst
darin eingeschlossen war, zahllose kleine Verästelungen, wie hauchfeine
Äderchen, brachen, die sich mit wohligem Schauder in ihren Leib bohrten
und das war ein süßer Kitzel; ihr Innerstes, alles, was sie
je gefühlt und je gedacht, flossen nun in die Frucht und alles, was
die Frucht je gefühlt und je gedacht, in das Mädchen, das nun
kein Mädchen aus der Unterschicht mehr war, sondern der Kern im Gehäuse
jener Frucht und Farben pulsierten um sie her, die sie noch nie gesehen
und Düfte, die sie ...Von ferne glaubte sie ein widerlich schmatzendes
Geräusch zu vernehmen, es schien von weit außerhalb ihres Traumes
hereinzudringen, da stieß sie die Augen auf und sah durch die Schleier
der anderen Welt, in der sie halb noch schwamm, das unermeßlich Grauenhafte,
das um sie her vor sich ging. Es schien als habe sich das Bürstengeschäft
in ein lebendes Wesen verwandelt, die Wände, wirkten fleischig und
bewegten sich rhythmisch-pumpend, wie von einem geheimen
Atem durchpulst. Von überall
her krochen tentakelartige Wülste auf sie zu, fuhrwerkten und schlürften
an ihr herum. Da, wo der Gang, der vermutlich in die hinteren Privat- und
Lagerräume führte, gelegen hatte, tat sich ein Schlund wie ein
Rachen auf, daraus stieß ein langer dicker, glibbriger, schleimüberkrusteter,
sekretversprühender halsartiger Schaft hervor, an dessen Ende, wie
an einem Kran, der Herr Adolf Mollusk hing, wenngleich sonderbar von innen
nach außen gestülpt, denn seine Innereien standen von ihm ab,
als seien dies seine eigentlichen Extremitäten, und nur an seinem
Kopf erkennbar, der lachend japsend auf sie zufuhr. Angst flutete da den
Körper des Mädchens, doch die Wucherungen und die schlingpflanzenartigen
Glieder des Wesens hatten sie soweit eingesponnen, daß sie sich kaum
noch bewegen konnte.
Und wie das Mädchen
sich wand und in seiner Umklammerung hin und her sich warf, und wie der
Kopf auf sie zufuhr, ein grunzendes Gurgeln dabei ausströmte, sein
Maul aufstieß, und wie sie schon den kalten beizenden brodelnden
stinkenden glucksenden Atem des schleimigen Dinges mit dem Kopf des Herrn
Adolf Mollusk auf ihrer Haut spürte, und wie der Geifer des Dinges
auf sie herabrieselte, und wie das Entsetzen durch ihren Körper schlingerte,
und wie nun aus dem geöffneten Maul des Herrn Adolf Mollusk ein kugelförmiges
Etwas mit hervorstehenden Schnorcheln Saugrüsseln Stacheln spiralförmig
ihr entgegen trieb, da schrie das Mädchen, schrie, schrie wie sie
nie zuvor in ihrem Leben geschrien hatte. Doch war kein Ton zu hören.
Der Schrei trat ihr als gefrorene Masse vor den Mund, wurde von den Saugrüsseln
und Schnorcheln eingesaugt, verschwand wie in Zeitlupe in dem kugelförmigen
Gebilde und wurde scheinbar in den inneren Leib des Dinges hinabgepumpt.
Da begann dieses zu zittern und zu beben, zuerst das kugelförmige
Gebilde, dann der Kopf des Herrn Adolf Mollusk, dann dessen ganzer umgekrempelter
Leib, die Wulst, an der er hing, der Raum, das Haus, alles, die ganze Welt
und mit einem unendlich widerlichen Zischen platzte das fremde Wesen, war
bald nur noch schleimige Masse, die in duzenden Lachen auf dem Boden lag,
von den Tapeten rann, von der Decke tropfte. Das Mädchen erhob sich,
gewann langsam die Kontrolle über ihren Körper wieder, fühlte
das lähmende Gift entweichen, die Taubheit von ihr abfallen, wischte
sich die Schleimspritzer von Gesicht, Händen und Kleidung, stand noch
schwankend auf, ging dann rückwärts auf den Ausgang zu, dabei
auf die Überreste des geborstenen Dinges starrend, noch durchrauscht
von nie gekanntem Entsetzen, stieß die Türe, das, was noch davon
übrig war und was sich wie klebrig und klumpig anfühlte, auf
und taumelte hinaus, ins Freie.
War der Raum von innen unglaublicher
Verwüstung anheimgefallen, so sah das Haus von außen ganz normal
aus, nur die Schaufensterscheiben des Ladens waren beschlagen, sonst sah
man nichts, was auf das Geschehene hingedeutet hätte. Der Regen hatte
aufgehört und eine warme Märzsonne stand nun am Himmel und begoß
die mildegewordene Szenerie mit Wärme und Licht.
Da war eine Bushaltestelle,
ja, tatsächlich, es war ihre Linie, dort blieb das Mädchen stehen
und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Als sie noch stand und den
Brechreiz in ihrem Kopf niederzuringen suchte, hielt, wenige Schritte von
ihr entfernt, ein Taxi an und heraus stiegen die Ladenbesitzer Schlump,
Worms, Karpendiem, Eschede und Moralek. Da standen sie. Der Herr Moralek
reichte Zigaretten herum und so blieben sie noch eine Weile beieinander
und besprachen genußvoll paffend und im Tonfall ehrerbietungsvoller,
solider Pietät die Vorzüge des so plötzlich und unerwartet
verstorbenen Herrn Adolf Mollusk, dem, das war aus ihren Worten zu entnehmen,
sie soeben auf dem Friedhof die letzte Ehre erwiesen hatten.
Dann gingen sie sternförmig
davon, schlossen ruhig, gefaßt und sachlich ihre Geschäfte auf,
nahmen die Trauerfall-Schildchen aus den Türen, spreizten allzeit
tätig die Finger und warteten auf die erste Kundschaft des Tages.
Dem Mädchen war schwindlig und ihr Mund schmeckte nach Erbrochenem.
Und wie der Bus herangefahren
kam und sie den Fahrschein lösen wollte, da erschrack sie nur kurz
und flach darüber, daß der Busfahrer in frappanter Weise dem
Herrn Adolf Mollusk zu ähneln schien, wie man kurz und flach über
den Brief eines vergessenen Bekannten erschrickt. Darüber, daß
er ihr anstelle des Billets den vergessen geglaubten Wohnungsschlüssel
mit der kleinen grünen Discokugel daran reichte, darüber erschrak
sie schon nicht mehr.
|