monochrom

Rede zum 8. Mai 2005

(Gehalten im Rahmen des Befreiungsfests am 8. Mai 2005)

Am 13. April 1945, als die Schlacht um Wien geschlagen und der deutsch-österreichische Faschismus dank des Einsatzes der Roten Armee seinem verdienten Ende zugeführt worden war, meldete das befreite Wiener Radio, dass: "die Bevölkerung […] der Roten Armee Unterstützung gewährt und die Deutschen daran gehindert [hat], die Kämpfe zum Stehen zu bringen. […] Was aber wohl das Bedeutendste ist, sie haben die Ehre der österreichischen Nation gerettet"

Wer auch immer diesen Blödsinn verzapft hat, er oder sie hatte leider Recht!

Falls es einem derart in sich selbst verschlossenen Gefühl wie der "Ehre der österreichischen Nation" überhaupt möglich ist, überhaupt etwas zu empfinden. Z.B. die Bereitstellung der Person Adolf Hitlers, die hohe Anschlussbereitschaft an das faschistische Kernland sowie die wohl überwältigendste Kollaborationsbereitschaft in der Besatzungs-Geschichte der Menschheit als Zäsur ihrer selbst zu erleben… Falls also dieses Gefühl auch durch eine wenn auch nur beiläufige Trübung gegangen sein mag… Falls dieses dumme, dumpfe und zutiefst gefühllose Gefühl, ja, falls diese Kloake aus Niedertracht und Unbelehrbarkeit sich wenigstens einen kurzen Augenblick lang aus seiner österreichischen Gemütsruhe bringen lässt von Völkermord und totalem Krieg, von über 50 Millionen Toten, vom Anblick der Leichenberge, der Verkrüppelten, Waisen und Witwen auf allen Seiten. Falls diese explosive Mischung aus Vollrausch und Altersstarrsinn überhaupt zu unterbrechen ist … Falls das möglich sein sollte -- spätestens in der Rede von der wahren, der zweiten Befreiung hat sich diese Ehre, die eine Schande ist, wieder in uns und um uns herum gemütlich gemacht.

Denn wurde nicht uns allen, mir ebenso gut wie euch, beigebracht, dass am 15. Mai 1955 der alliierte Besatzungszustand endete. Beigebracht, dass Österreich an diesem Punkt seiner Geschichte endlich – so heißt es – wieder es selbst sein durfte. Es selbst…?! Ein typischer europäischer Nationalstaat mit einer mickrigen pluralistischen Demokratie und einem ebenso Ekel erregenden wie abscheulichen Selbstbewusstsein. Und sie haben ja recht: Österreich ist wieder Österreich geworden und glotzt als Österreich frech und feist auf die Welt.

Vergessen wir nicht: Nationen und die auf ihnen errichteten Nationalstaaten sind keine Naturtatsachen. Nationen und die auf ihnen errichteten Nationalstaaten sind eine historische Erfindung. Eine Erfindung der bürgerlichen Klasse. Eine Erfindung zur Durchsetzung ihrer politischen und ökonomischen Interessen! Und das sind auch Sie, liebe Österreicher und Österreicherinnen, wie sie heute hier vor mir stehen: Erfindungen zur Durchsetzung politischer und ökonomischer Interessen…!

Was die österreichische Nation, der ich angehören soll, sein soll, das weiß ich nicht. Soweit mir ein Rest an Selbstbestimmungsrecht in ihr verblieben sein mag, ziehe ich es vor, nichts mit solchen Gebilden und deren Absichten zu tun zu haben. Wo sich die österreichische Nation mitsamt ihrer Ehre und ihren sonstigen Idiosynkrasien artikuliert, da behalte ich mir vor, nur ein dumpfes Rülpsen zu vernehmen. Ein Rülpsen, das säuerlich riecht nach Verbrechen und Wahnsinn. Nach Krieg.

Worin diese Ehre, besudelt oder nicht, bestehen soll, das kann ich mir nicht vorstellen. Weder vor dem Hintergrund ihrer Geschichte seit dem Anschluss an den deutschen Faschismus, noch unabhängig hiervon. Kolonialismus und Kapitalismus, Militarismus und Monarchie, das sind Verbrechen, die mir keine Ehrempfindung einzuflössen vermögen.

Und, selbst in ihrer zermürbten und weinerlichen Abart als der legendäre österreichische Selbsthass spricht mich die Ehre der österreichischen Nation nicht an.

Zum heutigen Tag jährt sich die Befreiung Österreichs keineswegs zum 60. Mal! Ebenso wenig wie sie es dieses Jahr zum 50. Mal tut.

Gedenken wir dieses Datums daher einmal nicht als Geschichte, nämlich als heroischem Akt. Und gedenken wir seiner einmal nicht als österreichische Geschichte. Gedenken wir lieber einmal der zahllosen Toten dieses Krieges, und aus gegebenem Anlass besonders jener des Kampfes um Wien. Gedenken wir heute vor allem der Toten auf der gerne unterschlagenen sowjetischen Seite. Gedenken wir der je 20 Sowjets, die in einem kaum vorstellbaren Vernichtungskrieg auf einen gefallenen Deutschen oder Österreicher kamen, und was sonst noch auf deren Seite mitlief.

Gedenken wir aber nicht des Opfers, das unsere sowjetischen Brüder und Schwestern brachten, um die entfesselte deutsch-österreichische Nazi-Bestie zu überwinden.

Gedenken wir ihrer vielmehr als Menschen, als Brüdern und Schwestern, indem wir ihnen nicht in der Diktion des europäischen Militarismus gedenken, der die Nazis mit ihren alliierten Gegnern im Sinne einer Kontinuität verbindet. Ehren wir sie, indem wir ihnen nicht den militaristischen Krampf einer Ehrung antun. Glorifizieren wir nicht ihr Leiden, ihre Schmerzen und die Gewalt, in der sie umkamen, indem wir sie zur militärischen Leistung verkitschen.

Täuschen wir uns nicht durch gut geöltes und alteingesessenes Militärvokabular darüber hinweg: Die meisten von ihnen starben nicht freiwillig. Sie starben nicht für ihr Vaterland, ihr Volk oder ähnlichen Müll. Sie starben auch nicht für Stalin und sein Regime, wie sie nicht für den österreichischen Nationalstaat, die Ehre der österreichischen Nation oder das jetzt errichtete pluralistische Regime starben. Ihr Sterben war kein Opfer, sondern Sterben.

Sie kämpften und starben, weil ihnen keine Wahl blieb.

Sie kämpften und starben, weil sie die faschistische Vernichtungsmaschine bedrohte.

Sie kämpften und starben, weil zu kämpfen und dadurch vielleicht zu überleben, ihre einzige Chance war, vielleicht zu überleben.

Und sie starben, weil sie eben keine Soldaten und Soldatinnen waren, will sagen: keine gut ausgebildeten und gut ausgerüsteten Kampfmaschinen, sondern Menschen, die sich in äußerster Notwehr gegen den Faschismus warfen. Oder von Stalin geworfen wurden.

Menschen, die den Faschismus nicht dank soldatischer Tugenden mit Mut, Tapferkeit und Umsicht im Morden bezwangen, sondern nur durch die schier unvorstellbare Masse, als die sie sich der deutsch-österreichischen Vernichtungsmaschine entgegen warfen, um sie zu stoppen. Und dabei hier zu Hunderttausenden starben.

Denn wir sollten nicht so feige sein, sie aus durchsichtigen Gründen zu lauter kleinen John Waynes zu verkitschen, um darüber zu vergessen, dass die ethnischen Konsequenzen der faschistischen Theorie und Praxis große Teile der BewohnerInnen der Sowjetrepublik ganz unmittelbar betrafen. Sie wurden als Untermenschen geführt, betrachtet, behandelt und in kaum fassbarem Ausmaß ermordet.

Ich möchte heute all dieser Sowjets gedenken und ihnen danken, ohne dabei in den soldatischen, den militaristischen Tonfall und seine Phrasen zu verfallen, der schon viele tausend Jahre hindurch Leid und Elend in die Welt gebracht hat.

Ich möchte ihrer nicht in markigen Phrasen von Pflicht und Ehre, von Einsatz und Heldenmut gedenken. Ich will keine Kampfmaschinen, keine Körperpanzer aus ihnen machen, und was dergleichen mehr das Patriarchat an Leitbildern erfunden hat, um seine ständige Interessenvertretung namens Krieg und Expansion in die Menschen zu betonieren.

Ich möchte sie nicht noch einmal als Menschen ermorden, indem ich als Soldaten und Soldatinnen von ihnen spreche. Ich möchte ihnen danken und ihrer gedenken auf die einzige Weise, die mir dem Grauen angemessen erscheint, das unsere Großväter und Großmütter und mancher vielleicht noch, der heute hier unter uns steht, sie durchleben ließen.

Ich möchte von ihnen sprechen, nicht in der Sprache der Gewalt und der Männlichkeit, der Sprache der Herrschaft und der Ausbeutung.

Wir danken ihnen und gedenken dieser Menschen, nicht weil sie uns befreit haben – denn wir haben das nicht verdient.

Wir danken diesen Menschen, dass ihr millionenfacher, schlecht ausgerüsteter, ihr unvorbereiteter oder bürokratisch organisierter Tod die Welt befreit hat, jedenfalls vom deutsch-österreichischen Faschismus.

Dass ihr Tod uns Nachgeborenen der faschistischen Mörder und Mörderinnen zudem die Möglichkeit verschafft, nicht unter Hitlers Erben aufwachsen und leben zu müssen… Dass er es uns erspart hat, in den Schulen und Universitäten der Nationalsozialisten und Nationalsozialistinnen selbst zu Nazis zu werden, dafür würde ich ihnen gerne als zufällig in Österreich Geborener danken, kann aber nicht erwarten, dass sie das annehmen.

Und kann es vor allem dann nicht erwarten, wenn ich mich heute in Österreich umsehe!

Dennoch möchte ich heute vor allem den Sowjets danken und gedenken, die ihr Leben dafür nicht ließen – auch das klänge zu heroisch, zu soldatisch, zu sehr wie die Sprache der Hitlers dieser Welt und ihrer Geschichte… Nein, ich möchte heute vor allem den Sowjets danken und ihrer gedenken, die ihr Leben lassen mussten, um zumindest dieses eine, dieses schlimmste Gräuel der Geschichte der westlichen Welt zu beenden.

Wir danken ihnen und gedenken ihrer und entschuldigen uns bei ihnen und ihren Angehörigen dafür im Namen unserer mehr oder weniger schuldig gewordenen und gebliebenen Großväter und Großmütter.

Insbesondere möchte ich mich dafür entschuldigen, dass ihr Andenken seit dem Ende des Kommunismus bisweilen mit Füssen getreten wurde, dass der so genannte freie Westen den Mythos erfunden hat, die USA hätten Europa befreit.

Ich habe mich gefragt, wie ich überhaupt von den Sowjets sprechen kann, die in der so genannten Schlacht um Wien ermordet wurden. Welche Worte überhaupt angemessen sind, ihnen tatsächlich zu danken und ihrer zu gedenken, ohne sie in die Sprache der Macht und in die Worte der Mächtigen zu verschleppen. (gebrüllt:) "Österreich!" – In dieser Exerzier-Sprache möchte ich nicht von ihnen sprechen.

Ich würde gerne in einer anderen Sprache von ihnen sprechen. Einer Sprache, die es in Österreich noch nicht gibt. Einer Fremd-Sprache, die ich noch nicht sprechen kann. Die mir aberzogen wurde. Einer Sprache, die mir meine Sozialisation als Mann und als Österreicher verbietet. Einer Sprache der Scham.

Ich möchte ihnen danken und ihrer gedenken, indem ich mich schäme. Mich schäme für Österreich, für sein angebliches Volk, und dafür, wie es wenig bis nichts aus seiner Geschichte gelernt hat.

Sich zu schämen ist leider eine viel zu wenig verbreitete Kulturtechnik. Der kulturelle oder auch persönliche Vermeidungsaufwand der Scham ist enorm. Das, was wir betreiben, um uns nicht schämen zu müssen. Wie viele von uns – mich eingeschlossen – gleichen darin unseren Großvätern und Großmüttern, einen unglaublichen Aufwand zu betreiben, um uns nicht für dies oder jenes schämen zu müssen. Scham nämlich zersetzt das Männliche, Soldatische in uns. Scham zerstört unser Subjekt, also das, worin wir sein wollen, wie der jeweilige Staat, der uns umgibt.

Wir erfinden Lügen und Ausreden, lassen ganze Spiralnebel von Lügen und Ausreden entstehen, nur um uns nicht schämen zu müssen. Wir haben es so gelernt. Aber, vergessen Sie einmal gemeinsam mit mir alles, was Sie gelernt haben. Schämen Sie sich heute und hier.

Schauen Sie sich doch ruhig einmal im Spiegel an, sehen sie denn nicht, wie die Lüge und die Ausflucht ihr Gesicht zu einer Karikatur verzerrt haben, bösartiger als alles, was Manfred Deix sich jemals hätte ausdenken können.

Sehen Sie nicht, wie es durch ihre Augen glotzt, das Volksempfinden, der Nationalstolz und was dergleichen Dämone mehr sein mögen.

Wollen Sie so aussehen? Wollen Sie das sein, dieses klägliche Bündel an Lüge, Ressentiment, diese Eigenblunze, als die sie bis zum Tode sonst schmoren müssten?! Diese Dummheit, diese sagenhafte Dummheit namens Österreich. Wollen Sie das?! Und: Wollen Sie das sein?!

Ich aber sage: Machen sie mit, schämen sie sich mit mir für Österreich, nur fünf Minuten jetzt und hier oder täglich. Sie werden merken, dass es ihnen schon nach einer Woche spürbar besser geht. Vielleicht nehmen Sie sogar ab dabei… Schämen Sie sich frei. Frei von den Lügen und den Verhärmungen, die ihnen allzu deutlich in den stolzen, aufgeplusterten, in die österreichischen Visagen gedruckt stehen.

Ich hoffe sehr, es haben sich heute auch einige Vertreter und Vertreterinnen der rechten und der bürgerlichen Presse eingestellt, um diese Rede als eine Schande für Österreich zu verschreien. Ich bitte sie sogar darum. Denn das ist, worum es heute geht, die Schande. Schämen wir uns für sie mit. Befreien wir uns von der Schande durch die Scham. Schreiben Sie das in Ihren depperten Zeitungen!

Ich halte Ehre für einen leeren Begriff, ein patriarchalisches Konzept, etwas, womit schon die Kinder abgerichtet werden, um gute Staatsbürger und Staatsbürgerinnen, das heißt kaltblütige Soldaten und Soldatinnen aus ihnen zu machen. Soldaten und Soldatinnen der militärischen Kriege von morgen und der ökonomischen Kriege von heute.

Aber, das eine weiß ich: Wenn es überhaupt so etwas wie Ehre geben kann, so heißt unsere Ehre nicht: "Volk"! Sie heißt nicht: "Vaterland" oder wie dessen liberaler Zwilling: "Nation"! Sie heißt nicht Exportvolumen, Bruttoinlandsprodukt oder Qualität aus Österreich. Sie heißt nicht pensionsförmige Gastfreundschaft oder leiwande Schischaukeln. Sie heißt nicht Wiener Schmäh oder Tiroler Gemütlichkeit. Sie heißt weder Berg noch Industrie.

Unsere Ehre, die es nicht gibt, heißt nicht, die Vergangenheit auszublenden für ein bisschen mehr Selbstzufriedenheit!

Unsere Ehre heißt nicht Treue. Unsere Ehre, meine Damen und Herren, unsere Ehre heißt Reue!

 

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