Der Speckpater

Die Dampfwalze Gottes

Eine autobiographische Reise in die Lektürewelten eines Meßdieners, Teil 1.

Von Wenzel Storch

Es ist schwierig, richtig auf die Kanzel zu hauen.
Oma Walton in "John-Boys Sonntagspredigt"

"Als Leser, dem die 'FAZ' und die 'Bildzeitung' genug sind und bei Gott mehr als das, glaubt man nicht, was es darüber hinaus noch gibt. Bis ein besorgter Mitmensch einem Mitteilung macht von den Veröffentlichungen eines Vereins, der sich Kirche in Not/Ostpriesterhilfe Deutschland e.V. nennt ..." So stand's im Januar in Gremlizas Express.

Die Verblüffung war ganz meinerseits: Ostpriesterhilfe! Die Dampfwalze Gottes! Der Speckpater! Mit einem Mal war alles wieder da. Auch die kleine Liste fiel mir wieder ein, die ich vor Jahren mal - nur so aus Scheiß - aus der Erinnerung zusammengekritzelt hatte. Eine Liste mit all den Wochen-, Monats- und Zweimonatszeitschriften, die in den siebziger Jahren bei uns zu Hause gelesen wurden. Und die alle, wie ich erfreut feststellen konnte, als ich die Liste wieder hervorkramte und mir aus nostalgischen Gründen ein paar Probehefte bestellen wollte, heute noch erscheinen.

Neben dem "Echo der Liebe", dem Zentralorgan der Ostpriesterhilfe, waren das: "Stadt Gottes" (die Zeitschrift der Steyler Mission), "Der Weinberg" (die Monatszeitschrift der Hünfelder Oblaten), "Missio Aktuell", das "Bonifatiusblatt" und natürlich das "Liboriusblatt", "die große Wochenzeitung für die katholische Familie". Nicht zu vergessen die knallbunten Pallottiner-Periodika "Pallottis Werk" und "Das Zeichen". Wobei ich "Das Zeichen", eine sakral-psychedelische Zeitschrift, deren Chefredakteur der als "Gitarrist Gottes" bekannte Pater Perne war, selbst jahrelang auf Befehl meiner Eltern in der Nachbarschaft austragen durfte. Hinzu kamen noch "Weltbild" und die "Kiz", die "Kirchenzeitung für das Bistum Hildesheim" sowie das Umsonstmagazin "Die Sternsinger".

Mit all dem Quatsch bin ich großgeworden, auch wenn ich als Kind natürlich lieber "Praline", "Wochenend", "Feigenblatt", "Sexy", "Schlüsselloch" oder die "Sankt Pauli Nachrichten" gelesen hätte. Als Zuflucht vor dem spirituellen Overkill blieb immerhin "Petzi", die große weite Welt von Petzi, Pelle, Pingo und Seebär. Dort hatte man Ruhe vor den Karmeliterinnen und Ursulinen und ihren Problemen. Dort wurde nicht gefleht und gebetet. Dort wurde Pfannkuchen gegessen und Gulasch gekocht.

Und dort lebte das Bumstier, das heute leider längst das Klopfschwein ist (apropos Klopfschwein: Während allenthalben historisch-kritische Gesamtausgaben - demnächst 36 Bände Christoph Martin Wieland - wie Pilze aus dem Boden schießen, läßt eine sorgfältige "Petzi"-Edition leider noch immer auf sich warten).

Oje. Fast hätte ich über Petzi "Leuchtfeuer Ministrant" vergessen. Inzwischen war ich dank einiger Kopfnüsse meines Vaters längst Meßdiener und verbrachte einen Teil meiner kargen Freizeit - man mußte nach den Schularbeiten ja auch noch Rasen mähen, Geschirr abtrocknen und Straße fegen - am "Tisch des Herrn". "Leuchtfeuer Ministrant" war unsere Zeitschrift, ein dünnes vierfarbiges Heftchen, das zum Mitnehmen in der Sakristei auslag - so etwas wie das "Happy Weekend" der Ministrantenszene. Hier lernte man Gleichgesinnte kennen und konnte sich zu religiösen Spielen verabreden.

Hier erfuhren wir "Minis", wie wir Ministranten von der Redaktionsleitung genannt wurden, das Neueste über ungewohnte Praktiken des Glaubens, frische Gebete und was sonst so los war im Meßdienermilieu. Dazu Rätsel und Witze. In der Mitte gab es sogar ein kleines Poster. Hier waren nicht etwa Brian Conolly von Sweet oder Noddy Holder von Slade zu finden, sondern Schnappschüsse von Usambaraveilchen, Eichkätzchen und Kruzifixen im Gegenlicht: Motive, die sich im Kinderzimmer über dem Weihwasserbecken prima machten. Was ist schon Suzie Quatro gegen die Muttergottes, mochten sich die Redakteure gedacht haben, und so gab es immer wieder üppige Fotostrecken, auf denen die "Mugo", wie wir die Muttergottes heimlich nannten, zu sehen war. Die Mugo war meist aus Holz, nicht selten auch mund- und fußgemalt. In puncto Verlockung allerdings kein Vergleich zu den Jungfrauen und Madonnen, die einem aus dem Quelle- und Neckermann-Katalog anlachten.

Daß uns die Pallottiner-Blätter "Das Zeichen" und "Pallottis Werk" regelmäßig ins Haus flatterten, hatte mit meinem Onkel zu tun. Onkel Joseph war "Glaubensbote im Heidenlande", Missionar bei den Pallottinern in Kamerun. Wenn er aus dem schwarzen Kontinent zu Besuch kam, hatte er einen Sack voll Fachliteratur dabei, vornehmlich Räuberpistolen aus der Mission. Sein Lieblingsautor war Hermann Skolaster, in dessen Grundlagenwerk Die Pallottiner in Kamerun ich erstmals, auf Seite 248f., die "Handschrift eines Negerbriefes (2/3 natürl. Größe)" zu Gesicht bekam.

Skolasters Kriminal- und Abenteuerromane, im Stubenschrank pittoresk neben einem ebenfalls von Onkel Joseph mitgebrachten Straußenei plaziert, habe ich als frischgebackener Oberschüler verschlungen: Im deutschen Urwald, Im Banne der Ngil, Der bucklige Detektiv. Oder Schwester Beata, der Roman einer Kunstreiterin, die der Zirkuswelt den Rücken kehrt und um Aufnahme ins Kloster bittet. Hier war nicht nur "vom Kamerunneger und den Freuden und Leiden seiner Bekehrung" zu lesen, hier wurde auch packende Kriminalhandlung geboten. Tolle Schmöker, die man laut Verlagswerbung "auch der reiferen Jugend gerne in die Hand geben" durfte.

Der Stimmbruch nahte, und in meinem Oberstübchen gaben sich, anstelle von Petzi, Pelle, Pingo und Seebär, Figuren wie Klekih-Petra, Kolma Puschi und Schahko Matto die Klinke in die Hand. Parallel zur exzessiven Karl-May-Lektüre stürzte ich mich nun kopfüber in die Welt der katholischen Abenteuerliteratur: Mord auf dem Pfarrfest, S-O-S Wir landen im Kloster - was immer mir in die Finger geriet, wurde vom ersten bis zum letzten Buchstaben verschlungen.

In Büchern wie Als Ministrant zu Wasser und zu Land oder Der fliegende Pater in Afrika erfuhr man Wissenswertes aus aller Welt, etwa über das Meßdienerwesen jenseits des Äquators. Pater Gypkens verrät in Fahrt am Äquator, der afrikanische Meßbub ("Er kann nun einmal R und L nicht unterscheiden") habe alle Hände voll zu tun, "Spinnen und anderes kriechendes Getier von der Hostie fernzuhalten". Und wie wunderbar leise er im Auftreten sei, "weil die schwarzen Schuhe, die Gott ihm selbst über die flinken Füße gestülpt hat, genau sitzen. Seine schwarze Haut, wenn frisch gewaschen, steht ihm prima zum roten und grünen Röckel."

Geheimnisvolles Afrika! Aber auch in der Eismission war was los. In Der fliegende Pater bei den Eskimos drehte sich alles "um ewiges Eis und ewige Liebe": "Der bekannte Oblatenpater und Gründer der MIWA weiß aber auch packend zu erzählen, etwa von dem Teufel im Benzintank, der Hundeschlacht am Polarkreis, der Feuersbrunst im ewigen Eis ..."

Abenteuer über Abenteuer! Was für eine Kindheit. Und dann nahte auch schon der Tag, als mir zum ersten Mal der Speckpater über den Weg lief. In Form eines leuchtend roten Büchleins, das alsbald auf nahezu jedem katholischen Nachtkästlein lag. Das rote Buch aus dem Paulus-Verlag - es war auf einmal überall.

Auf dem Titelbild posiert ein Ordensmann mit einem Ferkel im Arm. Wem dabei das Schmähwort "Schweinepriester" einfällt, ist schief gewickelt: Der Speckpater ist mehr als ein Seelsorger mit einer abseitigen oder absonderlichen Grille. Er ist der Strippenzieher einer Kampforganisation, die in mindestens drei Kontinenten die römisch-katholischen Puppen tanzen läßt. Bzw. tanzen ließ - denn wie es sich heute mit seiner Ostpriesterhilfe verhält, dazu später mehr.

Wer wissen will, wie der Pater zu seinem Namen kam, der wird in diesem wunderbaren Buch fündig. Ein ganzes Kapitel erzählt von "der großen Speckschlacht von 1948" und von den "vielen tiefgründigen Gesprächen in Kuh- und Schweineställen" ("'Ich möchte gern den Speckpater sprechen.' - 'Der ist im Schweinestall.' - 'Aber ich kenne ihn nicht.' - 'Er hat ein Birett auf.'"). Übrigens hat der Speckpater noch einen anderen Namen oder besser Titel, der fast noch schöner klingt: die "Dampfwalze Gottes". Nicht zu verwechseln mit dem "Maschinengewehr Gottes". Dem Kampfnamen des in den Wirtschaftswunderjahren vor allem in der Hamburger Nuttenmission tätigen Pater Leppich, der sich vorzüglich auf der Reeperbahn tummelte und den schönen Wahlspruch "Christsein ist Gnade, Gnade ist Adel, Adel verpflichtet" prägte.

Während der Klappentext den Speckpater in Kinderbuchmanier zum "Till Eulenspiegel in weißer Kutte" verniedlicht, preist der Erzbischof Josef Kardinal Frings ihn im Geleitwort, gegeben zu Köln "am Fest des hl. Franz von Assisi 1961", mit Pauken und Trompeten: "Ich nannte ihn einmal einen modernen Dschingis-Khan; denn wo er gewirkt habe, sei alles radikal abgeerntet". Und diese Töne treffen's wohl eher. Also Vorhang auf für den Speckpater und sein Bataillon der Liebe!

Die Vögel zwitschern und die Schmetterlinge flattern. Herzlich willkommen in Flandern, in der Prämonstratenserabtei von Tongerlo. Wir schreiben das Jahr 1947. Hier wird von morgens bis abends tüchtig gefleht, denn jenseits der Grenze sind "Kinder desselben himmlischen Vaters" in Bedrängnis geraten.

Ein paar hundert Kilometer weiter. "Das verzweifelte Seufzen und Schluchzen der Entwurzelten" dringt aus den Hochbunkern. "Überall, wo die Kirchen als Staub hinweggefegt waren, hatten diese Monstren standgehalten", die nun "Hunderttausende jener Millionen, die kraft des Potsdamer Abkommens in die Verbannung gehen mußten", verschlangen. Die Vertriebenen kamen aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien oder dem Sudetenlande, und "der Gott der Verwüstung" hatte sie "als Teufelsfutter in die Bunkermäuler" geworfen.

Speckpater (Bleistiftzeichnung von Wenzel Storch, Winter 1985)

Man sieht, der Speckpater liebt blumige Bilder. Hereinspaziert also in die Bunker von Frankfurt am Main. Und keine Angst, der Pater nimmt uns bei der Hand: "Tritt ein in diese Mordhöhle, in diese schwarze Bestie mit den weißgekalkten Eingeweiden. Dring vor bis in die tiefsten Bauchhöhlen voll grauer Menschenbrocken. Ein reißendes Tier. Von Raum zu Raum, von Stockwerk zu Stockwerk, aufwärts und hinab, überall sind die giftigen Drüsen des Ungeheuers in Funktion. Überall spürst du den Verdauungsprozeß, überall riechst du Verwesung, überall siehst du die Verzweiflung der Wehrlosen, die lebendig verschlungen, ausgesogen, leergepreßt werden, bis sie aufgelöst sind in einen namenlosen tierischen Menschenbrei." Hier ist man "einquartiert beim Teufel". Dem Speckpater begegnen bei seiner Besichtigung "ringsum geile Augen, schamlose Gesten, zweideutige Reden, liederliches Lachen", und unablässig lockt "der Ruf des wilden und gereizten Blutes".

Im Bunker (Filzstiftzeichnung von Wenzel Storch)

Also nichts wie heim nach Tongerlo und gefleht. Zunächst gilt es, "den Haß gegen die Deutschen zu überwinden und die Liebe wiederherzustellen". Flammende Artikel für die Abteizeitschrift werden verfaßt: Besonders "unsere Mütter und Frauen, die unaussprechlich schwer unter dem deutschen Unrecht gelitten haben und täglich mit müdegeweinten Augen die Bilder ihrer teuersten Lieblinge betrachten", sollen dazu bewegt werden, sich "mit mütterlicher Liebe über das deutsche Leid zu neigen".

Zwar: "Ein durch jahrelangen Aufenthalt im Konzentrationslager aus dem Gleichgewicht geratener Priester macht mir in Brüssel vor aller Öffentlichkeit die heftigsten Vorwürfe", wie der Speckpater später verstimmt vermerkt, aber Meckerer gibt's immer, und dieser Miesepeter kann die Lawine nicht aufhalten: "In Vinkt, wo 1940 fünfundachtzig Männer und Jungen von den einmarschierenden Deutschen niedergemetzelt worden waren, vergalt man das angetane Böse mit Händen voll Güte. Wogen der Barmherzigkeit und Liebe gingen durch das flämische Land und überspülten alsbald auch die Niederlande." Der Speckpater ist baff, immerhin spielt das Geschilderte "während der antideutschen Furie der ersten Nachkriegsjahre". Unaufhörlich läutet "die Alarmglocke in Tongerlo" und die frisch gegründete Ostpriesterhilfe ertrinkt in Spenden aus Belgien und Holland. Und kann schon bald "mit fliegenden Kolonnen voller Trost und Liebe ostwärts ziehen". Und dies ist nur der Beginn einer beispielslosen Erfolgsgeschichte.

"Die Frontlinie des Gottesreiches läuft quer durch Deutschland. Wenn die Kirche dort über den Haufen geworfen wird, ist die Springflut der totalen geistlichen Vernichtung nicht mehr aufzuhalten." Die Ostpriesterhilfe ist kaum ein Jahr alt, da wird auf der Festung Königstein im Taunus bereits "ein Bataillon gedrillt", denn die malerisch gelegene Burg soll "ein Ausfalltor zum Reich der Finsternis" werden. "In einer alten Kaserne formte Gott da seine Heldenpriester", heißt es erinnerungsselig in einer Bildunterschrift, "Theologen in Uniform", bereit zum "Apostolat unter den Verjagten".

Eine Armada von sogenannten Rucksackpriestern macht sich auf den schweren Weg in die westdeutsche Diaspora, umherstreunende Seelsorger mit Meßkelch und Klappaltar, unterwegs zu den übervölkerten Nissenhütten, "die wie Geschwüre und Pestbeulen überall aus der geschundenen Haut der Erde herausbrechen" und prallgefüllt sind mit Heimatvertriebenen jeglicher Couleur. Ständig auf Achse, always on the road, am Horizont immer wieder "das graue Skelett toter Städte" und die Furunkeln verwahrloster Nissensiedlungen. Da freut man sich vermutlich, wenn man zur Abwechslung an einem katholischen Mädchenpensionat vorbeikommt und ein wenig Rast halten darf.

Dann erwarten den Rucksackpriester "strahlende Gesichter und frische Schürzen, die von Stärke und gutem Willen knistern". Man tankt auf, und es kann weitergehn.

Anfang der fünfziger Jahre dirigiert der Speckpater nicht nur Armeen von Rucksackpriestern, die nicht selten das Allerheiligste in einer schäbigen Zigarrenkiste bewahren, er ist auch - der Spendenwut sei Dank - Herr über einen kleinen Fuhrpark, voll mit "fahrenden Kirchen", wie er seine mit Altären und allem liturgischem Schnickschnack ausgestatteten "Opel-Blitz-Kapellenwagen" nennt: Wunderautos, die fast schon an Bruce Waynes Batmobil erinnern (wie ja überhaupt die Schnurren des Speckpater, mich zumindest, an einen anderen Klassiker religiöser Bekenntnisliteratur erinnern: an Bommi Baumanns Wie alles anfing).

Die Kapellenautos werden auf wunderliche Namen wie Herr-Jesus-Wagen, Madonna-Wagen, Bonifatius-Wagen, Hirten-Wagen oder Veronika-Wagen getauft, und schon kann die "Kolonne Gottes jubelnd zu den Feldern der geistlichen Eroberung" ausrücken, durch Staub und Schlamm vorstoßen "zur Front der Weltkirche, wohin die Bischöfe vieler Diözesen sie zu Hilfe gerufen haben".

Schon bald donnert sie durch die westdeutschen Bundesländer, am Steuerknüppel Haudegen wie Kanonikus Dubois, einer von über hundert "Soldaten Gottes" mit LKW-Führerschein. Eine "Brigade der Nächstenliebe" knattert, "voll apostolischen Feuers", kreuz und quer durchs Land. Doch im Gegensatz zu Batman kommen "Gottes Zigeuner" oft zu spät: So haben sie im Jahre 1953 auf ihren Reisen durch die Diaspora allein "mehr als achttausend Mischehen" vorfinden müssen, konnten aber auch "fast 250 Tonnen Liebesgaben" verteilen. (Mischehe bedeutete 1953: katholisch-evangelisch überkreuz. Was Liebesgabe bedeutete, ist strittig.)

Ende Teil 1

Wenzel Storch

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Der Sprung über den Eisernen Vorhang

Mit dem Speckpater im Reich des Bösen. Teil 2 einer autobiographischen Reise in die Lektürewelten eines Meßdieners.

Von Wenzel Storch

Ohne Christus geht alles schief.

Werenfried van Straaten

Was bisher geschah: Der Mönch Werenfried van Straaten aus der Prämonstratenserabtei von Tongerlo, der sich schon früh den schönen Kampfnamen Speckpater zulegt, dirigiert Ende der vierziger Jahre Armeen von sogenannten Rucksackpriestern und ist Herr über einen ständig wachsenden Fahrzeugpark: "Fahrende Kirchen" - so nennt der Speckpater seine "Opel-Blitz-Kapellenwagen", die kreuz und quer durch die westdeutsche Diaspora kurven, um den heimatvertriebenen Katholiken den Leib Christi zu bringen. Auch er selbst pest predigend durch halb Europa und ist oft an hundert Orten gleichzeitig, wo er seinen "Millionenhut", eine Art Riesenschlapphut, aufhält, mit dem er in vierzig Jahren rund zwei Milliarden Dollar sammelt. So steht's in seinem Rechenschaftsbericht Sie nennen mich Speckpater, einer Mischung aus Lebensbeichte und Kampfschrift.

Ein Geheimgespräch mit einem Sowjetgeneral ("Wir diskutierten stundenlang. Als er sich verabschiedete, sagte er: 'Wir sind die Elite Satans, aber ihr, seid ihr die Elite Gottes?'") stößt den Speckpater 1949 mit der Nase auf ein weiteres riesiges Einsatzgebiet, das sich einem Versäumnis des Heiligen Stuhls verdankt: Hätte der als "Arbeiterpapst" in die apostolischen Annalen eingegangene Leo XIII. seine Enzyklika "Rerum Novarum" - die Mutter aller Sozialenzykliken - nur vier Jahrzehnte früher verfaßt, dann hätten Karl Marx und Friedrich Engels die Soziallehre der Kirche nicht, "mit Gift vermischt", dem Volk in Form des Kommunistischen Manifests "zu essen" geben können.

Nun hatte man den Salat. Die Hälfte der Erde war rot - darunter "das Land Mariens", die unendlichen Weiten Rußlands, "Land, das Gott geraubt wurde". Hier, wo "im Feuerofen der Dialektik brand- und feuerfeste Marxisten" fabriziert werden, ist nicht nur die Backstube des Teufels, ist bereits die Hölle auf Erden: Hier besteigen sechzig Millionen Katholiken ihren Kalvarienberg, um "nicht unter dem Kreuz, sondern unter der Last des soundsovielten Fünfjahresplanes" zusammenzubrechen, und ringsumher liegen die "zerquetschten und zertretenen Glieder Jesu Christi". Wie Saurierknochen säumen sie "den blutigen Kreuzweg der verfolgten Kirche", dazwischen irren die "Partisanen Gottes", deren Leben "oft härter als das eines Missionars im Urwald" ist: "Zu Zehntausenden zählt man die Märtyrer, zu Hunderttausenden die stillen Bekenner in den Konzentrationslagern hinter dem Eisernen Vorhang." Von den einstmals so fruchtbaren deutschen Ostgebiete gar nicht zu reden: In Ostpreußen hausen mittlerweile "Tartaren und Kirgisen", in Schlesien versteppen die Felder "und im Sudetenland brüllen die Bulldozer".

Es muß was passieren, und 1952, auf dem zweiten "Kirche in Not"-Kongreß ("In 18 Sprachen schlug die Brandung der Gebete an die Küsten von Gottes Ewigkeit") wird - nach dem Vorbild von Skippy, dem Buschkänguru - zum großen Sprung angesetzt. Die Ostpriesterhilfe soll zur "Internationale der Liebe" erweitert werden und den "Sprung über den Vorhang" wagen.

Was zunächst unmöglich erscheint, ist mit der Hilfe Gottes gar nicht so schwer. Das wissen übrigens auch die Drogenrocker von Metanoia, einer Sakropopkapelle, die behauptet: "Ich kann mit meinem Gott über Mauern springen, denn er ist meine Kraft." (Nachzuhören ist dieser von Gott schwer angetörnte und mitreißende Song auf "Wir sind Menschen", der einzigen "Langrille" von Metanoia, die, zumindest für Freunde der Gattung, noch ein paar andere Sakropopperlen bereithält und von einem gewissen "Schnecki" produziert wurde. Doch das nur am Rande.) Um den "Sprung über den Vorhang" vorzubereiten, errichtet man zunächst eine Reihe geistlicher Stützpunkte und Kraftzentralen. Den Anfang macht Kloster Bebra, nicht nur "ein Brennpunkt des Gebets und des apostolischen Eifers", sondern auch die erste "Festung für Gott dicht am Eisernen Vorhang". Eine Bastion, einzig "der Ausbreitung des Gottesreiches auf Erden" geweiht, "mit Marschrichtung in die Entwicklungsländer, die Missionen und - nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen - in die Gebiete hinter dem Eisernen Vorhang."

Oktober 1956. Kämpfer auf den Barrikaden von Budapest! Der Speckpater entfesselt "einen Sturm von Gebeten, der durch alle Pfarreien Flanderns" braust. Die "Sturmnovene des Rosenkranzes" hat Erfolg. Für einen Augenblick öffnet sich die Grenze nach Ungarn, und schon drängt die Ostpriesterhilfe "mit Händen voll Liebe durch die Bresche ins Gebiet hinter dem Eisernen Vorhang." Der Speckpater, zwar ohne Paß und Visum, aber mit Rosenkranz, immer vorneweg: Nun endlich können, Auge in Auge mit "den Bischöfen und Geheimbischöfen des Ostens", "Vorbereitungen für den Tag der offenen Türen" getroffen werden.

Fieberhaft werden für den Tag Null "Priester mit einem 'Ostherzen'" rekrutiert, und durch blitzschnelle Aktionen beim Tode Stalins, bei den Aufständen in Berlin und Polen oder bei Kursänderungen Titos gelingt es der Ostpriesterhilfe, tonnenweise "Liebesgaben", "meist unter fremder Flagge", in "die dunkle Hemisphäre" hineinzuschmuggeln. Ein Jahresbericht zählt Ende der Fünfziger unter anderem "15.300 Pakete mit Süßigkeiten, 8.793 theologische Handbücher, 340 vierteilige Breviere", aber auch 21 Autos, 89 Motorräder, 2 Waschmaschinen, 12 Hörapparate, 1 Hostienbäckerei und 1 LKW.

Familie Storch (Bleistiftzkizze von Diet Schütte, 1984)

Auch ich habe für die Ostpriesterhilfe gekämpft, in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren, als Knabe an der Heimatfront. "Täglich den Rosenkranz beten für die Bekehrung Rußlands", so lautete die Order des Speckpaters, um "den Wellenschlag des Gebetes in immer höheren Fluten über den Osten spülen zu lassen". Und so wurde vor dem Stubenschrank aus Nußbaum niedergekniet, den Blick zur Mugo, zur hölzernen Muttergottes erhoben, und - "nach den Direktiven, die die Gottesmutter uns in Fatima und andernorts gegeben hat" - um Schutz für die Brüder und Schwestern hinter dem Eisernen Vorhang gebetet, besonders aber für die Brüder und Schwestern in der Ostzone.

Begeisterter Heimatvertriebener: Papa Storch

Unsere Familie war durch den Verlust der Heimat persönlich betroffen, und nicht von ungefähr spielte mein Vater, als begeisterter Heimatvertriebener und Vollblutschlesier, bei allerlei Flüchtlingstreffen in kurzen Lederhosen mit dem Schifferklavier zum Tanze auf.

Viele seiner Weisen hatte er dabei Ernst Mosch und seinen Original Egerländer Musikanten abgelauscht - jenem Ernst Mosch, der noch Anfang der Achtziger die auf Liveauftritte seiner Musikanten gemünzte Parole "Unser sanfter Gesang muß über dem ganzen Saal liegen wie ein Fettauge" ausgab. Weisen, die meine Kindheit und Jugend begleiteten und ein lebenslanges Faible für diese Art von Musik zur Folge hatten. Noch heute verfolge ich mit Interesse die Aktivitäten all der Florian Silbereisens, Mariannes und Michaels, und ich kann nur wärmstens empfehlen, sich einmal unter Rauschgifteinfluß eine DVD der Kastelruther Spatzen anzuschauen: Da erweitert sich tatsächlich ein bißchen das Bewußtsein.

Papa Storch beim Flüchtlingstreffen in Hannover, Sommer 1949

In jenen Jahren schlug ich, grob geschätzt, 50.000 Kreuzzeichen. Was die Kraft des Gebets vermag, wußte schon Karl May, von dem ich bis zur Volljährigkeit fast besessen war und der Old Shatterhand selbst beim Galoppreiten beten läßt, jedenfalls in Old Surehand, Band eins: "Sir, was treibt Ihr da? Ich glaube gar, Ihr betet?" fragt Old Wabble, ein steinalter Trapper mit schlohweißem Haar (der optisch stark an den heute ebenfalls steinalten Bluesrockgiganten Johnny Winter erinnert), als die beiden auf ihren Kleppern Seit' an Seit' durch den Llano Estacado jagen.

Old Wabble verlacht den tiefgläubigen Westmann, was Karl May ihm freilich nicht durchgehen läßt: Tausend Seiten später, in Old Surehand III, werden dem Gottlosen dafür langsam die Eier zerquetscht. Bis heute eine meiner Lieblingsstellen und bis heute - Herr Breloer! Herr Eichinger! Wo sind Sie? - nicht verfilmt: Der Delinquent wird mit dem Unterleib - quer zum Baum natürlich, damit sich die erwünschte Kreuzform ergibt - in eine gespaltene Fichte geschoben wie die Hexe in den Backofen.

Laß dich nicht durch "das freundliche Gesicht eines kommunistischen Diktators" irreführen, hatte der Speckpater gepredigt: "Konzentriere auf ihn das Kreuzfeuer deines Gebets." Und: "Was hindert dich daran, einen Sowjetminister, ein Mitglied des Zentralkomitees oder den Folterknecht in der Lubjanka mit deinem Gebet zu umzingeln?" Der Osten war rot von Blut: "Gieße das Öl deiner Liebe und den Wein deines Gebetes in die klaffenden Wunden." Und wahrlich, das taten wir. Damit wir nicht müde wurden, kam regelmäßig das "Echo der Liebe" ins Haus, in dem ich als Kind schaudernd blätterte, denn wenn man die Seiten umschlug und dabei die Ohren spitzte, konnte man ihn tatsächlich hören, den "Gesang der verfolgten Kirche im Feuerofen des Kommunismus". Wenn ich es recht bedenke, gab es sogar mal eine Zeit, in der ich vor ganz bestimmten Briefmarken Angst hatte: vor denen mit Walter Ulbricht drauf. Die Fratze des Bösen, die mich unbewegt anstarrte, wenn ich nach den Schularbeiten, das Kassengestell auf der Nase, meine kleine Sammlung sortierte.

Kreuzfeuer des Gebets wider die Fratze des Bösen: Der Autor mit elf

Mein Lieblingskapitel im Speckpaterbuch war schon immer "Der Pavillon", denn hier wird ein Blick in die "Zentrale der Liebe" geworfen. Unwillkürlich fühlt man sich ins Auenland versetzt - Frodo und Gandalf lassen grüßen: Traumhaft gelegen "im Schatten der Abtei mit den weißen Mönchen und den grauen Brüdern, den Schweinen und den Kühen, der grünen Wiese und dem Tannenwäldchen und dem Glockengeläute, das siebenmal am Tag aus dem hohen Turm fällt", erhebt sich das Hauptquartier der Ostpriesterhilfe, der Pavillon, in den blauen Himmel von Tongerlo.

Hier, "wo die Steine sprechen und der Beton warm ist von Liebe", geht es zu wie in einem Bienenstock. Huscht dort nicht "ein Schwarm junger Scheutisten, Prämonstratenser oder rotbemützter Weißer Väter" vorbei? Auf dem Weg in die Kühlkammer? Dort "hängen in langen Reihen geräucherte Würste und die königlichen Schinken, vorgestern vom Wagen der Barmherzigkeit aus Ost- und Westflandern mitgebracht". Ein paar Meter weiter: blaßrote Riesensäulen von Würfelzucker! Ein Schlaraffenland voller Holzgestelle, "die sich unter der Last von Sardinen, Dosenmilch, Corned-beef, Makkaroni, Lebkuchen und Schokolade biegen". Hier saust unermüdlich der Ladelift, "stöhnen die elektrischen Pressen, rattert das Transportband". "Hier ächzen die Fußböden unter der Last der Liebe." Hier, "wo die Sonne eingefangen und, auf Lastwagen geladen, in die Finsternis gebracht wird", herrscht das Kommen und Gehen der Kapellenwagen, der Zehn- und Zwanzigtonner, die ölverschmierte Chauffeure rund um die Uhr mit "Liebesgaben" beladen.

Überhaupt: die "Liebesgaben"! Turmhohe Paketstapel, versehen mit Adressen "in allen Sprachen des Ostens, zungenbrecherische, fast unaussprechliche Namen von emigrierten Seelsorgern im Westen und von verfolgten Priestern hinter dem Eisernen Vorhang, die auf dem bedrohten Vorposten des Gottesreiches stehen." Nun heißt es ausschwärmen in drei Kontinente! Vorher noch schnell in die Kantine, wo "das schwere Essen" serviert wird, "das bei diesem hohen Arbeitstempo unentbehrlich ist". Was sind der kleine Prinz, Abba oder der König der Löwen gegen diesen Mann, den Speckpater? "Zweitausend Tonnen Liebesgaben" stapeln sich "bis vor die Tür des Zimmers aus Pappe, das mir als internationales Hauptquartier dient", reibt sich der Puppenspieler von Tongerlo, der in diesem Kabuff seine Strippen zieht, verwundert die Augen und muß selber staunen: "Nach menschlichen Begriffen ist unsere weltweite Tätigkeit ein Rätsel."

Welch ein Stoff für die Bühne, für den Broadway! Wo bleibt das große Speckpater-Musical? Mit steppenden Prämonstratensern, mit radschlagenden Scheutisten im Reich des Bösen und mit barbusigen Ursulinen, die durch den brennenden Reifen der freien Liebe springen? Und über allem kreist wie eine fliegende Untertasse das liturgische Apostolat (Sowas Ähnliches habe ich mal in Hannover gesehen, auf der Modern-Talking-Tour 2001. Thomas Anders trat ans Piano und mit dem ersten Akkord ging ein riesiges Herz in Flammen auf. Was dann los war, kann man unmöglich beschreiben.)

Der Rest ist schnell erzählt. Eines Tages stürmten die Scorpions mit "Wind of Change" die Hitparaden: "Das Album erklomm die Charts, und die vier Boys bekamen zum ersten Mal den Duft einer Supergroup zu riechen", hatte es mal in unserer Meßdienerzeitschrift "Leuchtfeuer Ministrant" geheißen - allerdings nicht über die Scorpions, sondern Barcley James Harvest. Glücklicher Speckpater! Er durfte den Sturm noch erleben, der die Berliner Mauer umpustete und den Eisernen Vorhang in Fetzen riß. Die Völker des Ostens ergossen sich in die Sexshops des Westens, und alle Not hatte ein Ende.

Und was macht die "Kirche in Not" heute so? Ehrlich gesagt: keine Ahnung. Woher auch? Der Zauber ist längst dahin. Die "Konzentrationsklöster" im Osten sind befreit, und der Speckpater hat die irdischen Fäden längst aus der Hand gelegt. Und Ostpriesterhilfe ohne Speckpater, das ist wie Tokio Hotel ohne Bill Kaulitz, wie Motörhead ohne Lemmy, wie Bill Bos Bande ohne Bill Bo, wie Saint Tropez ohne Louis de Funès..

Wenzel Storch

Erstmals erschienen in
KONKRET Nr. 11 und 12, 2007

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