Der Mensch als Sediment
Vortrag über G. P. Thomanns Installation „Anteil
04“
Ars in der Manege 2000
Nebenan sehen wir ein merkwürdiges Objekt: einen Wassertank,
gefüllt mit dem, was uns die Tafel als die Bauteile des Menschen beschreibt.
Der Mensch besteht aus Wasser, Kalzium, Kohlenstoff, Eisen, Phosphor und
anderen Spurenelementen.
Haben wir hier also die Essenz des Menschen vor uns, das,
was übrigbleibt zieht man alle kulturellen Schichten ab? Das nackte, innerste
Wesen des Menschen, das, was der Mensch immer war und immer sein wird? Ein paar
chemische Bauteile in ein bestimmtes Verhältnis gebracht, und schon steht er
vor uns, der Mensch, zusammengeklebt aus Lehm wie der Golem? Ein Häufchen
Dreck, zeitlos und unveränderbar, ohne Geschichte.
Keine Minute würden wir einer solchen Interpretation Glauben
schenken. Entdecken wir doch bereits beim Betrachten dieses Tanks einen Text,
gezeichnet mit einem Namen. Dieser Mensch, von dem uns erzählt wird dass er
hier aufgelöst vor uns liegt hat also einen Namen. Damit ist er aber ein
bestimmter Mensch, ein Individuum. Und diese Bestandteile, das sind jene dieses
Mannes, der Georg P. Thomann heisst.
Dieser Thomann, seine Bestandteile liegen in dem
Tank. Natürlich: denn das ist keine Statistik, die wir hier vor uns haben.
Keine Tafel der Elemente, die den Menschen ausmachen. Sondern ein Tank,
in dem verschiedene Schichten von Wasser, Kalzium und Kohlenstoff liegen,
Faltungen und Wirbel bilden, Ablagerungen und Verwerfungen.
Das soll also der Mensch Thomann sein? Wenn man
es zum ersten Mal sieht, würde man das nicht erkennen. Das sieht eher aus wie
eine geologische Formation, eine Landschaft. Genauer: eine geologische Formation,
die eine Landschaft bildet. Die Landschaft ist ein Effekt der mit freiem Auge
dem Laien nicht erkennbaren geologischen Formation. Der Name: ist das der Name
der Landschaft oder der sie konstituierenden Schichtungen? Das Wiener Becken,
das Nördlinger Ries. Solche Formationen gibt es. Und jede von ihnen hat eine
Geschichte. Manchmal machen sie auch Geschichte: sie liefern Kohle, oder ihre
Hügeln bieten Ansiedlungen Platz, die rasch zu Städte werden, die nicht mehr
genug Platz haben. Sümpfe werden trockengelegt, Hügeln werden aufgeschüttet und
wieder abgetragen, Menschen kommen und gehen, vielleicht findet eine Schlacht
statt. Die Landschaft ist der Schauplatz der Geschichte, würde Walter Benjamin
sagen.
Auch das, was hier den Namen Thomann trägt hat
eine Geschichte. Sie liegt uns in Form einer Chronologie vor, die Daten und
Ereignisse auflistet.
Wir haben also 3 Elemente: eine Landschaft,
einen Namen und eine Geschichte. Sehen wir uns das Verhältnis zwischen diesen
Elementen etwas genauer an. Dazu werde ich mich kurz einer der besten
Popgruppen der Welt zuwenden.
The
Clash singen in ihrem Lied „Spanish Bombs“ folgenden Text: „The hillsides ring
with ‚free the people’, can I hear the echos from the days of ‘39?“
The hillsides ring with ‚free the people’: Durch
die Landschaft hallt also ein Ruf. Nein, wir müssen genauer sein. Die
Konstruktion mit ring ist hier sehr präzise: die Landschaft hallt wieder
mit einem Ruf. Es gibt kein Subjekt, das ruft. Nicht: „On the hillsides, the freedom fighters shout: ‚free the
people’“. Es gibt nur einen Wiederhall.
Wann? Zu welcher Zeit? Zur Zeit des
Bürgerkriegs, dem dieses Lied ein bemerkenswertes Denkmal setzt? Oder 1979, zur
Zeit als The Clash das Album London Calling veröffentlichen, auf
dem sich das Lied findet? Das wird nicht klargestellt. Es heisst nicht: “In the year of ’79 the hillsides
ring with ‚free the people’” oder „’39 the hillsides ring with...“. Es heisst
auch nicht “The hillsides rang with …”. Das Datum wird erst im folgenden
Satz wichtig. Aber da taucht es in eine Frage eingewickelt auf, die in der
Ich-Form gestellt wird: „can I hear the echos from the days of ’39“. Eine
sichere Antwort darauf wird uns nicht gegeben. Kann man die überhaupt geben?
Vielleicht darf man sie gar nicht geben. Vielleicht wäre sie zu laut, zu
lärmende und würde das schwache Echo übertönen. Ein Echo, dass nur vernehmbar
wäre für den, der zu hören weiss.
Mehr aus der Landschaft als aus der Geschichte, mehr aus dem
Raum als aus der Zeit tönt also eine Phrase: „free the people“. Der Ursprung
dieser Forderung ist nicht zu bestimmen. Es gibt kein Subjekt des Aussagens,
vielmehr hallt die Landschaft wieder mit diesem Ruf. Sicher ist er nicht ’39
erfunden worden. Vielleicht ist er schon da seit dem Befreiungskrieg gegen
Napoleon, wahrscheinlich noch länger. Auf jeden Fall ist er eine Forderung, ein
Versprechen, eine Utopie. Aber er ist keine platonische Idee, die in einer
höheren Sphäre angesiedelt wäre. Dieser Ruf könnte nicht bestehen ohne einen
Resonanzkörper. Und das sind die Hügeln, die Landschaft, die er zum Vibrieren
bringt. Hier, an einem bestimmten Ort, ist er immer eine ganz konkrete
Forderung, ein konkreter Einsatz in einem konkreten Kampf: Befreiung von den
Truppen Napoleons, Befreiung vom Faschismus. Oder an anderen Orten, wie an
diesem hier: Befreiung von rassistischen oder sexistischen Diskriminierungen,
Befreiung von einer wildgewordenen provinzialistischen Regierung.
Man muss der Landschaft die Geschichte
zurückgeben, und die Geschichte zur Landschaft machen. Nur dann wird es
möglich, die Erinnerung an jene spezifischen Kämpfe zu wecken, die längst
verdrängt wurden. Man muss zeigen, dass es nicht immer so war, wie es uns jetzt
als selbstverständlich erscheint. Die Gewalt der Kämpfe, die nicht so
hätten ausgehen müssen, hat ihre Spuren hinterlassen, ihre Narben in der
Landschaft. Für den, der zu lesen weiss und für den, der zu hören weiss. Das
Lesen und Hören dieser Spuren öffnet uns einen utopischen oder heterotopischen
Raum. Ein Erewhon (Here-Now und
no-where) [1].
Und auf einmal finden wir alle uns in einer
Landschaft, einem Name, einer Geschichte: Thomanns ist eine kollektive
Erfahrung. Wir werden sie gemacht haben, vielleicht sogar in den nächsten
Tagen. Und dann werden wir mit The
Clash sagen: I’m hearing music from another time.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
tbrandstetter 8/2000
[1] ein Begriff von Samuel Butler den Deleuze aufgreift