(zusammengestellt von Johannes Grenzfurthner und Frank Apunkt SchneidEr / www.monochrom.at)
Georg Paul Thomann wird am 13. März 1945 in Bödele in Vorarlberg als Sohn von Hans und Hermine Thomann geboren. EIne Woche später wird er in der evangelischen Kirche in Dornbirn getauft (AB). Hans Thomann ist Postbeamter, Hermine Thomann Hausfrau. Georg ist nach Peter und Günther das dritte Kind der Familie.
1951 - 1962
Von 1951 bis 1955
besucht Thomann die Volksschule in Bödele.
Ab 1955 besucht Thomann
das Gymnasium in Dornbirn.
Georg erweist sich als
außergewöhnlich intelligenter Schüler, die Dornbirner Lehrer loben durchwegs
seine Selbständigkeit, sein frühreifes soziales Verantwortungsgefühl und seine
organisatorischen Fähigkeiten.
Nach der vierten
Gymnasialklasse wird Thomann auf Betreiben des evangelischen Pfarrers von
Dornbirn, Julius Eberle, ins städtische Internat aufgenommen. Thomann wendet
sich zu dieser Zeit stark der Kirche zu und ist von der erhabenen Erscheinung
seines Förderers Eberle zutiefst eingenommen. Ihm gegenüber äußert er mehrfach
den Wunsch, Priester zu werden.
Viel eher als diese
angebliche Berufung treibt ihn jedoch die gewonnene Unabhängigkeit von den
Eltern an, aktiv am Anstaltsleben teilzuhaben. Während der Oberstufenzeit von
1959 bis 1963 sieht er seine Eltern nur zweimal pro Schuljahr, an Weihnachten
und an Ostern. Auch die Sommerferien verbringt er nicht Zu Hause, sondern mit
Klassenkollegen. In einer großen Gruppe befährt man jeden Sommer mit Rädern das
Rheinufer bis an den Bodensee.
„Es gab
wenigstens eine Erfahrung dessen, was Natur vielleicht sein könnte. Das hab ich
von Vorarlberg in guter Erinnerung. Wir haben uns von den Bergen abgewandt und
haben die Weite gesucht, oder besser gesagt die FlächEn. Die Flächen des Rheins
und des Bodensees waren für mich sicherlich ein wesentlicher Antrieb zu
zeichnen und zu malen.“ (Thomann in einem Gespräch mit Herbert Buchner,
veröffentlicht in „Bedingungen“, Hrsg.: Herbert Buchner, Verlag Ueberreuter)
In der sechsten Klasse
gründet Thomann die Schülerzeitung „Das Boot“, die mit von seinen
Klassenkameraden verfassten schulinternen Berichten und einer Fülle von ihm
selbst gezeichneter Comics und Karikaturen gestaltet wird (unter anderem „Galacta“).
Als die Anstalt im Herbst 1961 ein gebrauchtes
Tonbandgerät („AEG-Telefunken Magnetophon KL 65 KS mit Kristallmikrophon“)
ankauft - gedacht zur Modernisierung des Fremdsprachenunterrichts - ist Thomann
begeistert. Er bringt es im GeheimEn immer wieder ins Gruppenzimmer. Auf
unbespielten Spuren der Englisch- und Französischtonbänder experimentiert er
gemeinsam mit den Zimmerkollegen.
„Während ich aufnahm,
liefen die anderen im Zimmer auf und ab und gaben iRgendwelche, meist sehr
derbe Wortfetzen von sich. Dann hantierte ich mit dem Apparat solange herum,
bis irgendwas Lustiges mit dem Aufgenommenen passierte, wenn alle lachten, war
ich zufrieden.“ Im Schlafzimmer hören die Buben außerdem Schallplatten und in
der Nacht Radio. „Was uns verband, war unser Hass auf Elvis Presley. Es gab
neben Elvis nichts, außer mein Heimatdorf, das ich annähernd so stark
verabscheute. Wir wollteN Beat, sonst nichts.“ (Thomann
in „Jungle World“, August 1999)
Ab deR siebten Klasse
beginnt Thomann, Gedichte und kurze Prosa zu schreiben, vernichtet aber den
Großteil davon wieder. (Erhalten ist nur das „Atommärchen Bumm“ und das
Gedicht „Dadobele“.)
Als Vorbilder dienen ihm
H. C. Artmann und Gerhard Rühm, deren neueste Gedichtbände er laufend von
Pfarrer Eberle geschenkt bekommt.
Unzufrieden mit den
Artikeln seiner Freunde, übernimmt er in seiner Schülerzeitung nun auch die
Verantwortung für den Textteil. Er schreibt kritische Beurteilungen aller
Lehrer und bemängelt den baulichen Zustand des Internatsgebäudes. Das teilweise
aufgebrachte Lehrpersonal muss immer wieder von Pfarrer Eberle beruhigt werden,
der immer noch seine schützende Hand über den Jungen hält.
Thomann versucht, außerhalb des
UnteRrichts Klassiker der Philosophie zu lesen, gibt aber zu, nichts davon zu
verstehen.
„Es war mir egal, mir
ging es um das Gefühl, das ich beim Lesen hatte. Meine Augen flogen über
Nietzsche und Schopenhauer und ich tauchte in eine Traumwelt ein. Nie mehr
empfand ich ein so befreiendes Unwissen. Oder vielleicht doch. Mit Maria
Prantner.“ („profil“ Nr. 11/1988)
Maria Prantner und Georg
P. Thomann lernen sich in den Sommerferien 1962 bei einem Dornbirner Jugendfest
kennen. Sie ist seine erSte Liebe. Während der achten Klasse sind die
nächtlichen Treffen mit Maria ein weiterer Grund für die zunehmend feindselige
Haltung der meisten Lehrer gegenüber Thomann.
Als er sich in einem
seiner Artikel im „Boot“ direkt gegen den Direktor wendet und ihn in die
Pension wünscht, platzt dem der Kragen. Thomann erhält zweiwöchigen Karzer, „Das
Boot“ darf nicht mehr erscheinen. Pfarrer Eberle kann einen Anstaltsverweis
verhindern.
1963
Wenige Wochen vor der Matura werden
Thomann und seinen Zimmergenossen sämtliche privaten Annehmlichkeiten wie
Plattenspieler, Radiogeräte oder Unterhaltungsliteratur weggenommen und später
nicht wieder ausgehändigt.
„Sie kamen mit einer Art
Inventarliste unseres privaten Besitzes in den Schlafraum und nahmen alles mit,
was auf der Liste stand. Als sie verschwunden waren konnten wir uns nicht
halten vor Lachen. Das schuleigene Tonbandgerät stand noch immer auf meinem Bett.
Es war nicht auf der Liste gewesen. Ich hab es sofort sorgfältig verstaut und
nach der Matura mitgenommen. Es funktioniert noch immer.“ (Thomann in „Jungle World“, August 1999)
Thomann maturiert am 12. Mai 1963 mit
ausgezeichnetem Erfolg. Bei der Abschlusszeremonie lehnt er Es jedoch ab, sein
Maturazeugnis vom Kommissionsvorsitzenden überreicht zu bekommen, über den sich
die Schüler im Vorfeld erzählten, er wäre unter den Nationalsozialisten
Polizeikommandant in Passau/Deutschland gewesen. Es entwickelt sich ein Tumult
mit dem Anstaltsdirektor und Pfarrer Eberle, in dem Thomann den Vorsitzenden
als „SS-Schwein“ beschimpft. Thomann reißt ihm das Zeugnis aus der Hand,
erhält vom Direktor eine Ohrfeige und läuft aus dem Haus. Pfarrer Eberle zeigt
sich vom Verhalten seines Schützlings persönlich beleidigt und nimmt Thomanns
Schulabgang zum Anlass, keinen weiteren Kontakt mit ihm zu pflegen. (Anm.: In
einem Gespräch mit Thomanns Eltern soll Pfarrer Eberle die Frage gestellt
haben: „Wer hat mir nur den Schorsch so verdorben?“)
Auf Anraten seines Zeichenlehrers
Friedrich Zurbrügg entschließt sich Thomann, an der Akademie der bildenden
Künste in Wien zu studieren. Die Aufnahmsprüfung besteht Thomann mit mehreren
im Maßstab 1:10 verkleinerten Kopien impressionistischer Meister. Er wird
Schüler der Klasse Erich Huber, der die Supplierung Albert Paris Güterslohs
übernommen hat.
Thomann zieht in eine Garconniere in der
Joanelligasse im 6. Wiener Bezirk ein.
Bei der Herbstausstellung der Akademie,
die am 24. November 1963 eröffnet wird, stellt Georg Thomann erstmals ein Bild
öffentlich aus, die Kohlezeichnung Kennedy Blast.
Im Dezember 1963 tritt ThomAnn gemeinsam
mit seinem Klassenkollegen Gerold Wagner der Kommunistischen Partei
Österreichs bei.
1964
Thomann und Wagner verfassen drei
politische Manifeste („Unseres ist das Recht“, „Was Ihr nicht möget
wissen“ und „Zu Beginn der Anfang“), die sie vervielfältigen und an
Studenten und Professoren der Akademie verteilen. Sie erhalten eine Rüge von
Rektor Herbert Böckl.
Thomann schreibt im Februar 1964 einen
offenen Brief an das Zentralkommitee der KPÖ, der in der Parteizeitung Weg
und Ziel abgedruckt wird. Darin fordert er die vorzeitige Einberufung des
19. Parteitags und die Neuwahl des gesamten Parteivorstandes. „Die
BesChlüsse des 18. Parteitags dienen heute nur mehr als Ohrensessel, in den
sich das ZK bei Bedarf zurücklehnt. [...] Weg mit Euch! Jeder wäre besser, holt
meinetwegen Muhri!“ (Weg und Ziel, 21. März 1964)
Er erhält auf sein Schreiben keine
Antwort.
Bei einer Versammlung von Parteifreunden
im April 1964 zettelt Gerold Wagner eine Prügelei an und nennt die Wiener
Kommunisten eine „Nazi-Bagage“. Er wird aus der Partei ausgeschlossen.
Thomann zeigt sich von der Unmöglichkeit, in Wien einen „sorglos-jugendlichen
politischen Diskurs“ zu führen, enttäuscht und tritt ebenfalls aus dEr Partei
aus. Seine öffentlichen Aktionen, die meist die Verteilung schriftlicher
Mitteilungen in Form von Flugzetteln und kleinstformatigen Zeitschriften sind,
will er von nun an als unpolitisch im Sinne der KPÖ verstanden wissen.
Anlässlich der Eröffnung des Donauturms
am 16. April 1964 versucht Thomann, Kopien eines Aufsatzes mit der Überschrift „Über
die Türme hinweg und in die Seele dieses Österreich“ an die Festbesucher zu
verteilen, woran er aber von einem Polizisten gehindert wird.
Ebenfalls im April schreibt Thomann einen
öffentlichen Brief (den er an Wiener Universitäten verteilt) an die Academy of
Motion Picture Arts and Sciences in Los Angeles. Er protestiert gegen den Verleih
des Oscars für den besten Film an „die My Fair Lady Scheiße“ und nicht
an Kubricks Weltkriegsgroteske „Dr. Strangelove“.
Am Abend des 19. Juni 1964 verteilt
Thomann in der Kärntnerstraße in Papier gewickelte Zwiebeln an männliche
Passanten. Auf den Zetteln steht: „Hans Moser ist gestorben und Sie haben es
nicht bemerkt. Gehen Sie heim. Ihre Frau weint.“
Sein erstes Jahr an der Wiener Akademie
lässt Thomann künstlerisch völlig unbefriedigt zurück.
„Der einzige Nutzen, den
ich aus der Akademie ziehen konnte, war glaube ich die dort gewonnene Übung im
Schnellzeichnen und im detailgenauen Kopieren alter Meister. [...] Ich
veranstaltete wahre Zeichenwettbewerbe mit den Mädchen in meiner Klasse. Sonst
kann ich mich an nichts erinnern, was ich dort gelernt haben sollte.“ („profil“
Nr. 11/1988)
Nach Ende des zweiten Semesters
entschließt er sich, seine Eltern in Vorarlberg zu besuchen, die er nun ein
Jahr lang nicht mehr gesehen hat, und mit denen er auch keinen Briefkontakt
pflegt. Nach drei Julitagen in Bödele fährt Thomann wieder ab in Richtung Wien.
„Es war natürlich die Katastrophe, die ich mir erwartet hatte. Es gab keine
Gespräche mehr, nur mehr Geschrei. Was meine Mutter betraf, Gegacker. Ich
schwor mir selbst, nie wieder Vorarlberger Boden zu betreten.“ („Plex
World“, 3/1982)
Zurück in Wien verbringt Thomann den
Großteil des Sommers mit seiner Klassenkollegin Tini Hergovic. Zu Beginn des
Schuljahres 1964/65 zieht er bei ihr ein. Hergovic bewohnt die Wohnung ihrer
verstorbenen Großmutter am Lobkowitzplatz im 1. Wiener Bezirk. Schon nach
wenigen Wochen bricht Thomann die von ihm als sexuelle Wohngemeinschaft
interpretierte Beziehung ab, nachdem ihm Hergovic einen Heiratsantrag macht.
Nach Beginn des zweiten Studienjahres,
als er zum ersten Mal einen auf ihm lastenden künstlerischen Produktionszwang
spürt, weiß Thomann, dass er auf keinen Fall an der Akademie bleiben möchte. Am
12. November 1964 fährt Thomann mit dem Zug nach Berlin. Er hat kein Gepäck bei
sich.
Thomann hofft in der Wohnung von Verwandten
Wagners unterzukommen. Dies klappt vorerst nicht. Thomann schreibt einen Brief
nach Wien, erst nach zwei Wochen Obdachlosigkeit kann er die Wohnung beziehen.
Thomann trifft bei einem Konzert den
Fotografen Bert Randow. Thomann zieht zu Randow und seiner Freundin Britta
Schlosser in deren Wohnung.
1965
Es entwickelt sich eine Dreiecksbeziehung
zwischen Randow, Schlosser und Thomann.
Thomann wird durch die hochgradig
politische Stimmung in Berlin angeregt („Das Wiener Loch hab ich hinter mir“),
die meiste Zeit nützt er dazu seine „gewonnene Freiheit“ auszukosten.
Am 2. April 1965, anlässlich der Europa
Center Eröffnung, setzt Thomann seine Kunst der literarischen Öffentlichkeit
fort. Er teilt Matrizenkopien der Kurzgeschichte „Und der Bürgermeister geht
eislaufen“ aus.
Thomann verbringt den Großteil der Zeit
mit Randow und Schlosser. Die Beziehung zerbricht jedoch Anfang Juni 1965.
Thomann bleibt dennoch bis 1967 in der Wohnung.
20. Juni 1965: Aktion „Ordentlich
durchnageln, Strammwade“. Thomann versendet illegal erworbene
pornografische Magazine, die er mit einem falschen Titelbild versieht, an
verschiedene Berliner Persönlichkeiten. Das Titelbild zeigt Konrad Adenauer.
Zahlreiche Untergrund-Magazine (u.a. „Knallkopf“)
beziehen sich auf die Aktion.
15. September 1965: Rolling Stones
Konzert Waldbühne Charlottenburg, 85 Leute werden festgenommen. Thomann wird
bei den Krawallen von Polizisten verprügelt, verletzt aber nicht festgenommen.
Thomann schreibt sein „Essay über den
Aufschlag“.
1966
Thomann verbringt viel Zeit in
politischen Kleinkommunen, lernt unter anderem Udo Kühn („K1“) kennen.
Die meiste Zeit widmet er jedoch der „fotografischen
Archivierung der Revolution“ (Thomann 1999 in „de:bug“).
5. Februar 1966: Etwa tausend Personen
beteiligen sich an einem Protestmarsch gegen das Engagement der USA in Vietnam.
Nach der Kundgebung ziehen rund 200 meist studentische Demonstranten zum
Amerika-Haus in der Hardenbergstraße in Charlottenburg. Nachdem sie zunächst
ein Sit-in veranstaltet haben, bewirft eine Gruppe (unter anderem Thomann) das
Gebäude mit Farbbeuteln. Die Polizei bildet einen Schutzring um das Haus und
treibt die Demonstranten auseinander.
Thomann lernt die Studentin Loli Wenders
kennen. Sie verbringen viel Zeit miteinander.
Im April entschließen sie sich zu einer
Berlinrundwanderung. Mit einem alten Zelt wandern sie die Grenze zur DDR
entlang.
Thomann schreibt den Artikel „Rundgang
am Anfang der Welt mit einem Hauch Ende“.
Nach studentischen Demonstrationen vor
einem Kino am Kurfürstendamm wird der dort am 2. August 1966 angelaufene Film
»Africa Addio« nach kurzer Spieldauer abgesetzt. Die Protestierenden werfen dem
Film vor, Kolonialismus und Rassismus zu verherrlichen.
Thomann verteilt Flugzettel zur „Rassenlehre“.
Am 11. Dezember 1966 kommt es erneut zu
Zusammenstößen zwischen Studenten und der Polizei bei einer Demonstration gegen
die amerikanische Vietnampolitik. Vor dem Bundeshaus in der Bundesallee löst
die Polizei die Kundgebung auf, da die Demonstranten von der genehmigten Route
abweichen. Bei der Abschlussveranstaltung am Wittenbergplatz gibt es weitere
Auseinandersetzungen. Die Polizei geht mit Gummiknüppeln vor.
1967
Im Mai 1967 fährt Thomann gemeinsam mit
dem ehemaligen Kommunarden Udo Kühn nach Paris, von wo aus dieser Drohbriefe an
Büros bundesdeutscher Regierungsmitglieder abschicken will. Sie wohnen für
einige Wochen bei der Journalistin und Soziologie-Studentin Isabelle Rascot,
die ein Jahr zuvor die „Kommune 1“ im Auftrag ihrer Zeitung „L’Humanité“
besucht hatte. Thomann und Rascot verlieben sich ineinander, und nach Kühns
Abreise ziehen die beiden zusammen in eine größere Wohnung in der Rue Faidherbe
im elften Arrondissement.
„Berlin und Paris [...],
das verschwamm für mich schließlich in der Figur Isabelles. Ihre Großeltern und
ihre Mutter waren Berliner gewesen, ihr französischer Vater war ein hoher
Beamter im Pariser Rathaus. Wenn sie mich durch die Straßen führte und mir in
deutscher Sprache die französische Politik erklärte, das war die Verschmelzung
aller meiner damaligen unschuldigen Interessen - Reisen, Kunst, Politik und
Liebe - in einer Person.“ (Thomann in Télérama Nr. 346/1989)
Thomann tritt der PCF, der
Kommunistischen Partei Frankreichs, bei, in deren Pariser Sektion Rascot
bereits ein anerkanntes Mitglied ist, nicht zuletzt aufgrund ihrer Artikelserie
in „L’Humanité“, in der sie täglich einen Grund mehr ausführt, warum der
nord-vietnamesische Kampf von der französischen Regierung ideologisch und mit
Waffen unterstützt werden sollte.
Durch die Vermittlung Isabelle Rascots
erhält Thomann im Juli 1967 gemeinsam mit vier anderen jungen Künstlern den
Auftrag, die von der PCF angekaufte „Galerie des cent ans“ im Quartier
Latin mit explizit „politischen“ Installationen einzurichten. Die Ausstellung,
die den Titel „Le dieu inconnu“ („Der unbekannte Gott“) trägt,
besteht aus zerschlagenen steinernen Heiligenfiguren, deren Körperteile sich zu
einem Geschwader von amerikanischen Bombern zusammenfügen. Thomanns erster
künstlerischer Auftritt in Paris sollte ein Big Bang werden.
Sein heimlicher Beitrag besteht darin,
nächtens und unerkannt die Skulpturen Stück für Stück aus der Galerie zu
tragen, um sie in der Wohnung einer Bekannten im Nachbarhaus zu deponieren. Die
leergewordenen Stellen müssen von Thomanns Kollegen immer wieder mit neuen
Kunstwerken aufgefüllt werden.
Nach zwei Wochen ruft die PCF die Pariser
Polizei zu Hilfe, die nun die Galerie - allerdings nur tagsüber - überwacht.
Bis zum Ende der Ausstellung werden über hundert Besucher vorübergehend
festgenommen im Verdacht, der geheimnisvolle Kunstdieb zu sein. Einige
Nachahmungstäter, die tatsächlich Teile der Installation bei sich tragen,
werden zu hohen Geldstrafen verurteilt. Schließlich entschließt sich die PCF,
die Galerie zu schließen, die Installation wird wieder abgebaut.
Eine Woche später aber steht das
Arrangement fast zur Gänze wieder - Thomann hatte die gestohlenen Teile aus der
Nachbarwohnung herbeigeschafft und erneut in der Galerie aufgestellt. Über den
gesamten Boden hatte er eine Nachricht an seine Parteifreunde geschrieben: „PCF
= Parti des Cul-Fuckers!“ („Partei der Arsch-Ficker!“) und mit „Le
dieu inconnu“ unterschrieben.
Als bekannt wird, dass Thomann die Aktion
mit seiner Freundin Isabelle und Teilen der Redaktion von „L’Humanité“
abgesprochen hatte, um nicht selbst von der Presse verdächtigt zu werden,
werden beide aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen.
Die französische Kunstkritik reagiert auf
die Enthüllung enthusiastisch:
„Georg Thomanns
künstlerisches Unternehmen beansprucht die Demontage persuasiver Shibboleths
wie sie sowohl im akademischen Kunstbetrieb als auch in alltäglicher
Handwerkskunst auftreten. Die Kunst des Alltags ist niemals neutral; sie trägt
die Präsuppositionen und kulturellen Assumptionen einer langen Tradition in
sich. Gleichzeitig resultiert die kritische Auseinandersetzung der
philosophischen Basis dieser Tradition in einer neuen Betonung der
individuellen Autonomie und Kreativität des Künstlers/Interpreten/Philosophen.
Vielleicht ist dieses anti-populistische und trotzdem anti-aristotelische
Element Thomanns wichtigster Beitrag zum Kunstgedanken der Post-Hiroshima-Ära.“ (Sophie David, „L’objet d’art“ 26/1968)
Eine seiner wichtigsten Bekanntschaften
in Paris wird Jean-Noel Picq, den er im September 1967 bei einer Begräbnisfeier
für den im 80. Lebensjahr verstorbenen Franqois-Maurice Eberl, einen jüdischen
Maler aus der „Ecole de Paris“, anspricht. Picq erinnert sich in Jean
Douchets Sechziger-Jahre-Rückblick „Jusqu’au mois de Mai“ (ed. Seuil
1978, deutsch: Von März bis Mai, Wagenbach 1979):
„Meiner Kurzsichtigkeit
und damaligen Eitelkeit, bei öffentlichen Anlässen keine Brille zu tragen,
verdanke ich es, Georg [...] kennengelernt zu haben. Georg war damals knapp
über 20 und hatte mich bei einer Party offenbar erkannt. Er begrüßte mich mit
grobem deutschen Akzent, aber sehr höflich: ‚Guten Tag, Herr Picq. Wie geht es
Ihnen?‘ Ich erkannte in ihm aber Jürgen Hensbach, von dem ich wusste, dass er
mit einigen seiner Bochumer Kollegen gerade ein Gastspiel am T. N. P. gab,
weniger am Gesicht als an diesem schwerfälligen und schlampigen Akzent.
Trotzdem wunderte ich mich über seine eigenartige Reserviertheit, also sagte
ich, noch immer im festen Glauben, Hensbach stünde vor mir: ‚Seit wann siezen
wir uns denn?‘ und küsste ihn. Seit diesem Zeitpunkt sind Georg Thomann und ich
also Duzfreunde.“
Thomann 1991 über Picq:
„Wenn ich heute an Picq
denke, sehe ich noch immer diese fette Kröte mit Brille, wie sie - hinter einen
Tisch im Café Flore gezwängt - mit ihren kurzen Ärmchen einen Cognac nach dem
andern in sich einwirft. Wenn er mit dir sprach, schmiss er sich ganz nah an
dich ran, er wollte deine Begeisterung für alles was er sagte, sofort spüren.
Er erklärte und erklärte, manchmal saßen wir zu zehnt um ihn herum, dann schnappte
er ein Thema aus der Luft, eben wie eine Kröte eine Fliege schnappt, und
grunzte stundenlang. Es war einschläfernd, aber glorios. [...] Heute sitzt Picq
noch immer im Flore, einmal jede Woche, allerdings mit Lycée-Schülerinnen,
denen er die Welt der Operette erklärt. Das ist kein Witz, das stimmt!“ (Junge Welt,
3. September 1991)
1968
Den besonders kalten Winter 1967/68
verbringt Thomann fast zur Gänze in den Cafés von St.-Germain-des-Près und in
Nachtklubs. „Unsere Wohnungen zu heizen kam uns zu teuer. Also trafen wir
uns jeden Tag schon zwischen zwei und drei, den ganzen Nachmittag diskutierten
wir im Flore oder im Deux Magots und tranken Kaffee und Cognac. Isabelle und
ich, Pierre Alechinsky und Charles Lapicque, deren Gemälde ich damals verabscheute,
die beiden Alten Picq und Douchet, die himmlisch schöne Irina Lhomme, Blandine
Jeanson, natürlich Jacques Renard und noch einige mehr. Renard habe ich Mitte
der Achtziger wiedergesehen, da begann er gerade, sich für AIDS-Kranke zu
engagieren, machte ein paar Filme zu dem Thema, die mich sehr beeindruckten.“
(„PNG“, 1992)
Während Isabelle Rascot die meisten
Winternächte in den Redaktionsräumen ihrer Zeitung verbringt, zieht Thomann für
gewöhnlich durch die Nachtklubs des Montparnasse oder des Bastille-Viertels,
meist in Begleitung Jacques Renards. Seine nächtlichen Bekanntschaften führen
zu einer vorübergehenden Trennung von Rascot („Sie war eine wunderbar
konsequente Bourgeois-Kommunistin, beim ersten Seitensprung musste ich raus.“)
im Januar 1968. Thomann zieht für einen Monat zu Renard, Anfang März kehrt er
jedoch wieder zu Rascot zurück.
Im März 1968 besucht Thomann an der
Universität Nanterre eine Podiumsdiskussion mit Michel Serres, Jacques LaDalle
und Victor Krylov. Er schreibt daraufhin gemeinsam mit Rascot einen Einakter,
der denselben Titel trägt wie die Diskussion der Soziologen: „La fraction de
la structure.“ In diesem Stück sollten zwei Schauspieler so lange unerkannt
im Publikum sitzen bleiben, bis mindestens die Hälfte der Gäste aus Ärger
wieder gegangen war. Erst dann würden die Akteure aufspringen, die Bühne
erklimmen und die Sitzengebliebenen für ihr Verhalten abwechselnd beschimpfen
und loben.
Jean-Noel Picq, dem er das Manuskript
vorlegt, lehnt eine Umsetzung nach den Unruhen im Mai 1968 zwar ab, er ermutigt
Thomann und Rascot allerdings, eine cinematografische Kurzfassung des Stückes
zu schreiben. Dieses realisieren Picq und Jean Douchet schließlich als
dreiminütige Episode innerhalb des von Jean-Luc Godard und Chris Marker initiierten
Kurzfilmprojekts „Cinétracts“ (1968).
Am Abend des 28. März 1968 schließen sich
Thomann und Rascot einem Zug Studenten aus der „Bewegung 22. März“ an,
der sich auf dem Weg zu einer pro-amerikanischen Ausstellung der rechten
Studentengruppe „Mouvement Occident“ befindet. Dort angekommen werden
die Exponate der Ausstellung minutiös auseinandergenommen und die
Räumlichkeiten in einen unbenützbaren Zustand versetzt. Gemeinsam mit 14
anderen Studenten aus dem „Mouvement du 22 mars“ wird Thomann für eine
Nacht in polizeilichem Gewahrsam gehalten. Isabelle Rascot ist vor Eintreffen
der Polizei bereits heimgegangen.
Ende April erkrankt Thomann an einer
Hirnhautentzündung und muss die folgenden zwei Monate im Krankenhaus
verbringen.
Den Studentenaufstand im Mai 1968 erlebt
er vermittels aufgeregter Erzählungen seiner Freunde. Er nützt die freie Zeit
zur Bearbeitung von „La fraction de la structure“ und schreibt
Leserbriefe an französische und deutsche Zeitungen.
In einem Brief an die Frankfurter
Rundschau vergleicht er sein Leiden mit dem Frankreichs: „Bald ist alles
wieder vorbei und ich werde mich erholen so wie Frankreich sich wieder erholen
wird. Und wenn man in einem halben Jahr mich fragen sollte ‘Wie ist das
Befinden’, so werde ich in sattem Ton antworten können, ‘besser als je zuvor’.
Ich habe Cohn-Bendit im Fernsehen gesehen und habe ihn ausgelacht. Alles was er
sagte, war richtig, und doch wußte ich: Mein unerbittlicher Heilungsprozeß wird
ihn stoppen.“ (Frankfurter Rundschau, 21. Mai 1968)
Nachdem sie eine Woche lang vermisst bleibt, wird Isabelle Rascot am 1. August 1968 von der Polizei tot aufgefunden. Ihr mit Decken verhüllter Leichnam liegt am Rücksitz eines Autos, das bereits drei Tage lang in der Rue St. Jacques nahe dem Panthéon im Halteverbot steht - wenige Meter von dem Hotel entfernt, in dem Thomann gelegentlich übernachtet, wenn ihm der Weg heim in die Rue Faidherbe zu weit ist. In ihrem Blut können geringe Mengen an Heroin festgestellt werden sowie eine Überdosis an Schlaftabletten. Da kein Abschiedsbrief gefunden wird, zweifelt Georg Thomann allerdings an der Selbstmord-These der Polizei.
Vierzehn Jahre später wird Rascots
Todesfall in Verbindung mit Geheimpapieren des amerikanischen Dokumenten CIA
neu aufgerollt, denen zufolge eine Beobachtergruppe des CIA seit dem Jahr 1968
Pariser Intellektuellenkreise überwacht haben soll. Rascots begeisterte
Berichterstattung über die Black-Panther-Bewegung in „L’Humanité“ und
die Tatsache, dass das Auto, in dem sie gefunden wurde, von seinem Besitzer nicht
vermisst wurde, geben Anlass zur Spekulation, dass Rascot vom CIA unter Drogen
gesetzt, verhört und anschließend - wobei ihr Tod in Kauf genommen wurde - auf
der Straße abgestellt worden war.
Georg Thomann lässt nach Isabelles Tod
seine Pariser Umgebung zurück und verbringt den August 1968 in Marseille und
bei Freunden in München. Herbert Meiseneder und Paul Lumbach, die Thomann von
seiner Zeit an der Akademie in Wien kennt und die in München ein Musikstudio
eingerichtet haben, regen ihn an, sich wieder vermehrt mit den Möglichkeiten
der elektronischen Musikaufzeichnung und ihrer künstlerischen Bearbeitung zu
beschäftigen.
Zurück in Paris wendet sich Thomann
allerdings zunächst der Malerei zu. Er zieht aus der Wohnung Rue Faidherbe aus
und richtet sich ein weiteres Mal bei Jacques Renard ein.
Nach wenigen Wochen zieht er zu einer
seiner Freundinnen aus dem Café Flore, Blandine Jeanson. Diese hat im Quartier
Latin eine Kommune eingerichtet in der Wohnung, die ein Jahr zuvor Jean-Luc
Godard als Filmkulisse für „La Chinoise“ (worin Jeanson sich selbst
spielen durfte) gedient hatte. Zwischen fünf und zwölf Leute, die meisten junge
Film- und Theaterschauspieler, bewohnen das weitläufige Dachgeschossdomizil. „Das
einzig Positive war, dass niemand etwas zahlen musste, um da wohnen zu dürfen.
Die Produktionsfirma hatte nach Ende der Dreharbeiten offenbar vergessen, die
Mietzahlungen abzustellen.“ (Thomann in Junge Welt, 3. September
1991)
Während Thomann mit Jeanson eine
„künstlerisch-sexuelle“ Beziehung unterhält, beginnt nun eine etwa einjährige
intensive Phase der Malerei und der Fotografie. In wenigen Monaten malt er von
seiner Feundin hunderte hypernaturalistische Porträts, die er anschließend
fotografiert und verbrennt. Die großformatigen Abzüge der Fotografien verkauft
er an diverse Kunsthändler.
Nach drei Monaten, an Weihnachten 1968,
verlässt Thomann die Kommune wieder und trennt sich von Jeanson.
„Verglichen mit dem, was
ich in Berlin erlebt hatte, sah mir das Pariser Kommunenleben eher wie das in
einer Nonnenschule aus. Politisch war das natürlich ähnlich, Mao-Bibel und so,
aber die Leute wollten eher lange und gemeinsam frühstücken als miteinander ins
Bett. Man fickte heimlich.“ (Junge Welt, 3. September 1991)
1969
Im Januar 1969 bezieht Thomann wieder
sein Zimmer bei Jacques Renard. Sein Interesse am gesellschaftlichen und
künstlerischen Leben in Paris geht zurück.
„Es war klar, daß man
zwangsläufig nach Deutschland blicken mußte. Kaum war das Jahr 1969
angebrochen, hatte man in Paris alles vergessen, was mit 1968 zu tun hatte. So
lächerlich der Mai 68 war, so traurig war ich doch über die Überheblichkeit,
mit der die Pariser nachher damit umgingen, mit sich selbst umgingen. Mir kam
vor, sie schämten sich. Aber in Berlin, München, Hamburg, da schien der Damm
noch nicht gebrochen, da staute sich noch immer alles, mit den Gedanken war ich
schon längst dort.“ (Jungle World, Nr. 33/1998)
Im Frühjahr 1969 dreht Thomann mehrere
kleine Filme, politische Statements zur Lage in Deutschland und in den USA, meist
mit sich selbst als Protagonist.
„Als Hommage gedacht“, wie Thomann
später sagt, ist sein Film „Grußbotschaft an Harun Farocki und Holger Meins“:
In Anlehnung an Farockis Anti-Vietnamkriegs-Manifest, in dem man diesen sieht,
wie er nach der Lektüre eine Zigarette am Handrücken sich ausdämpft, trägt
Thomann in seinem Film ein Manifest gegen die Zigarettenindustrie vor und
vernichtet abschließend eine Zigarette, indem er sie raucht.
In dem Film „Lettres d’une sœur qui
pète les plombs“ liest einer seiner Freunde, der Maler Charles Lapicque,
Briefe seiner in Amerika lebenden Schwester vor, in denen diese den
amerikanischen Präsidenten gegen die Angriffe ihres Bruders verteidigt.
Anlässlich dieser Begegnung verlieben
sich Georg Thomann und Charles Lapicque ineinander. Thomann zieht im April 1969
in Lapicques Atelier ein, wo er seine Mal- und Fotografie-Experimente
fortsetzt, mit seinem neuen Freund als Modell anstelle Blandine Jeansons. „Was
ich von Charles lernte, war die Liebe zu in ihrer Intensität jeder
Natürlichkeit spottenden Farben und vor allem den Mut zur Fläche.“
Im April beginnen Lapicque und Thomann
auch die Arbeit an dem großformatigen Doppelporträt „L’amant nu l’amant
flottant“, das Thomanns bekanntestes Werk als Maler werden sollte. Tag für
Tag, über Monate hinweg, stehen sie einander im Atelier gegenüber und malen.
Die Porträts werden mehrmals verändert und niemals fertiggestellt. Im Oktober
1969 werden beide Bilder vom Kunsthändler Henri Rosencrantz um 32.000 Francs
angekauft und später im „Musée national d'Art Moderne“ im neueröffneten Centre
Beaubourg ausgestellt, in dessen Sammlung sie sich noch heute befinden.
Ende Juli 1969 muss Thomann in mehreren
Zeitungen lesen, er habe vor der US-Botschaft in der Avenue Gabriel anlässlich
der amerikanischen Mondlandung am 20. Juli zehn das Live-Bild übertragende
Fernseher zertrümmert („Stop the Buzz“). Noch am selben Tag wird er
aufgrund dieser Meldungen wegen nächtlicher Ruhestörung festgenommen. Thomann
bestreitet bis heute, mit dieser Aktion etwas zu tun gehabt zu haben, doch ist
anzunehmen, dass er, wenn auch nicht Ausführender, so doch einer der Planer der
Zertrümmerung gewesen sein dürfte. Aus Mangel an Beweisen wird er jedoch noch
am selben Tag freigelassen.
Trotz seiner tief persönlichen Hinwendung
zur Malerei beschäftigt sich Thomann während des Sommers 1969 wieder mehr mit
Musik und versucht, an seine Erkenntnisse aus dem Monat in München anzuknüpfen.
„Was ich noch nicht
wußte, war, wie man Musik glaubhaft archivieren konnte, ohne in Verdacht zu
geraten, ein Schwindler zu sein. Was mich am Akustischen faszinierte, war ja
immer seine Flüchtigkeit gewesen. Ich erkannte, daß man dem Schwindel entging,
wenn man Musik elektronisch produzierte, wenn also die Archivierung sozusagen
jedem Klang vorausging, ihn erst ermöglichte. Wenn jedes Abspielen eigentlich
ein Auflisten ist, ein Auflisten an Möglichkeiten. Gleichzeitig der Tod jeder
Intuition, eine Kampfansage an den Mythos der menschlichen Kreativität.“ (Quelle: „Dagegen
- dabei. Texte, Gespräche und Dokumente zu Strategien der Selbstorganisation
seit 1969“, Dany, Hans-Christian; Dörrie, Ulrich; Sefkow, Bettina (Hg.),
Edition Michael Kellner, Hamburg 1998)
Mit einem Theremin und einem geliehenen
Moog-Synthesizer nimmt Thomann im Oktober 1969 unter dem Pseudonym „Lautrec
Tech“ die Tonbandreihe „Amour“ auf, deren drei Teile in einer
Mischung aus Sprache und Musik das Aufkeimen, die Verzweiflung und den Tod der
Liebe beschreiben. Obwohl das Tonstück seinem Freund Lapicque gewidmet ist,
gerät die bis dahin glückliche Beziehung durch Thomanns abstrakt formuliertes
Statement zum Tod der Liebe aus den Fugen.
Anfang November: Thomann malt das
fotorealistische Gemälde „Anna“, das Porträt einer fiktiven
Jugendlichen, die verstört in einem Stapel Kelloggs-Cornflakes-Packungen liegt.
Nachdem Charles Lapicque die Beziehung
beendet, um zu seiner Schwester nach Los Angeles zu gehen, entschließt sich
auch Thomann, Paris endgültig den Rücken zu kehren. Zum Großteil seiner Pariser
Bekanntschaften hatte er im Verlauf des Zusammenlebens mit Lapicque jeden
Kontakt verloren.
„Ich stieg in den Zug
und niemand kümmerte sich darum. Paris war ausgeblutet und kalt, 1968 war vor
Jahrzehnten.“
Einzig seine finanzielle Lage ist durch
den Verkauf verschiedener Gemälde zum ersten Mal in seinem Leben beruhigend, ja
geradezu rosig. Am 23. November 1969 kommt Thomann in München an.
Thomann bietet „Amour“ dem Bayrischen Rundfunk an. Die Bänder werden abgelehnt. Thomann wird jedoch Anfang Dezember 1969 freier Kulturrezensent des BR und lernt den Bildhauer Heiner Gerhardt kennen.
Günter Brus und Oswald Wiener gehen ins
Exil nach Berlin, Rudolf Schwarzkogler begeht Selbstmord. Thomann schreibt die
Kurzgeschichte „Brus Sel“, eine Totenrede für Schwarzkogler.
1970
12. Januar 1970: Happening „Kurs:
Kunst“. Thomann fährt mit einem Spielzeugtraktor im Kreis, angebunden an
eine zentrale Stange. Die Aktion muss abgebrochen werden, nachdem sich der
Traktor mehrmals löst und kippt. Zwei Passantinnen werden verletzt. Thomann
wird vorübergehenden in polizeilichen Gewahrsam genommen. Die Aktion wird wegen
ihrer „lächerlichen Metaphorik“ (das Schweizer Kunstmagazin „du“/2-70),
aber auch der „Verharmlosung des proletarischen Kampfes um die Emanzipation der
Geknechteten in aller Welt“ („Theorie und Praxis“) kritisiert.
Ende Januar 1970: Entwicklung einer
Dreiecksbeziehung zwischen Thomann, Bernward Vesper und der jungen
Schriftstellerin Gudrun Nabermeyer. Nabermeyer schreibt Thomann im Februar 1970
einen Brief: „ich werde jetzt eine zeitlang weg sein“ und geht in den
politischen Untergrund. Vermutlich versucht Nabermeyer Kontakte zur RAF zu
knüpfen, dies ist aber nicht bestätigt.
März 1970: Besuche in diversen Kommunen
(z. B. der Freudenhof Nürnberg; Agrarkollektiv Deggendorf, etc.)
„Der Tagesablauf in den
Kommune bestand aus: sich lustig machen über aktuelle Highlights der
Wichtelgesellschaft, übelste Manifeste entwerfen, Dreharbeiten für
Aktionsfilme, herstellen von Agitationsmaterial, Fotomappen und Siebdrucken,
Tourneen organisieren, Partys zu Musik von Jimi Hendrix, langen Gesprächen über
Kunst, Psychoanalyse, Wilhelm Reich, Anarchismus und die zukünftige
Kommunengesellschaft. Dann Sex in Gruppen oder zu zweit, eher selten allein
(ego).“ (Thomann in einem Interview für Art Forum, 3/89)
Thomann verwirft den Kommunengedanken.
Er arbeitet an einem Super-8-Loop-Film
Projekt („8 mal 8 ist 88“) für „The First International Underground Film
Festival“ in London.
Versöhnung mit „Trinkkumpan Vesper“
(Thomann in einem Interview für „Art Forum“, 3/89). Vesper schreibt: „(‚Bauer’)
Unsere Sprache, Sprache der Herrensöhnchen, ‚Du bist ein Prolet’, ‚Benimm dich
nicht so proletenhaft’, die Herrscherklasse und ihre Ideologie hält dafür, daß
die Söhne von vornherein die richtige Einstellung zu den künftig zu Beherrschenden
erhält. Als ich CMB (d. i. G. P. Thomann, vgl. „Vesper und die
Deutschen“ von Peter Manther) am Schwanz packte, sagte er‚ Du bist ein
Bauer’ und drehte sich auf die Seite.“ (Vesper, „Die Reise“)
15. März 1970 veröffentlicht Thomann
Artikel im Münchner Underground-Magazin „fudd“ (Augabe #3). Selbstkritik an
religiöser Implikation seiner Arbeiten, speziell „Der unbekannte Gott“,
zugleich positive Rezeption Adornos: „Die Transformation des Dualen, im
binären Gefangenen darf keine Transzendentalphantasie, keinen ‚Begriff des
Sinns’ mehr enthalten ‚als Refugium der verblassenden Theologie’, wie Adorno
sagt.“
In „fudd“ #4 rezensiert Thomann Susan
Sontags 1967 erschienenen Text „The Esthetics of Silence“. Er zitiert sie: „Der
Künstler, der Schweigen oder Leere schafft, muß, wenn auch nur deshalb, weil
das Kunstwerk in einer mit vielen anderen Dingen ausgestatteten Welt existiert,
etwas Dialektisches hervorbringen: eine volle Lücke, eine bereichernde Leere,
ein tönendes oder beredtes Schweigen.“ (Sontag, The Esthetics of Silence,
in: „Aspen Magazine“ 5-6 [1967]; zit. n.: Chaos, Wahnsinn, 80) und ruft zum
Boykott ihrer Schriften auf.
April 1970: Gründung des
Gemüse-Gaga-Orchesters (mit den Mitgliedern von Amon Düül), das Gemüse und
andere Nahrungsmittel auf der Bühne rituell bespielt und vernichtet - „auf
daß niemand mehr mit Pflanzen Kunst mache!“, wie er in einem Leserbrief an
das Hippie-Magazin „Dunst“ schreibt. Titel: „Kant hoch zwei“. Auch die
Blumenbilder von Warhol („Botaniker“) werden nicht verschont.
Thomann fährt nach Hamburg, als er
erfährt, dass Beuys Warhol für eine Podiumsdiskussion gewonnen hat. Eklat bei
der Veranstaltung: „Dem müßte man fest in die Eier hauen!“.
„Warhol war häßlich und
seelisch kahl.“ (Thomann)
(Anm. Fritz Ostermayer: Trio nehmen den
Streit zehn Jahre später auf ihrem ersten Album „Trio“ wieder auf mit der
Nummer „Los Paul, du mußt ihm fest in die Eier haun!“)
In einer Stellungnahme (23. April 1970)
vergleicht sich Thomann mit den „Hollywood-Ten“ und organisiert am 29. April
1979 einen öffentlichen Schauprozess am Münchner Viktualienmarkt. Die
Geschworenen sind Drag Queens, als Ankläger fungiert der bis dato unbekannte
Wiener Rockmusiker Fredi Fender (ab 1978 Vocalist der Wiener Band „Mordbuben
AG“) in Polizeiuniform. Während des Plädoyers, das Thomann (abwechselnd in
Jesus- und Stalinkleidung) selbst hält, senkt sich ein Porträt Warhols von oben
herab, das „geharzt und verhascht“ wird (mit Gras beworfen); es wird
berühmt als „der längste Joint, der jemals außerhalb Vietnams geraucht
wurde“ (Georg Seesslen). Thomann wird verhaftet. Bei der
Gerichtsverhandlung ist Thomann auffallend ruhig. Er kommt für drei Monate ins
Gefängnis. Er liest Pasolini und Kim Il-Sung, den er für seinen
„expressionistischen Stil“ bewundert, und gibt sich den Beinamen „Weltliteratur“.
Aus der Haft schickt er aber regelmäßig
Briefe an die Gefängnisleitung, später auch an den sozialdemokratischen
Innenminister, in denen er sich über die „zahmen Haftbedingungen“ und
die „unglaubliche Schludrigkeit des Personals“ beklagt. „Burt Lancaster
hatte Alcatraz“, titelt er seinen ersten Artikel nach der Haft (im Hamburger
Szenemagazin „Lupo“), was ihm „würde er bedeutend sein, endgültig die
Ächtung der RAF gebracht hätte - oder zumindest Kritik aus der radikalen
Linken“ (fudd #8). Thomann schreibt nie wieder für „fudd“.
1971
Frühjahr 1971 kurzer Amsterdam-Aufenthalt
für den Bayrischen Rundfunk.
Thomann besucht „Sound = Sight. Three Audio Visual Projects“ im Stedeljik Museum.
Thomann schreibt eine nicht eben wohlwollende
Kritik (Schlusssatz des Berichtes: „Mich hätten sie einladen sollen.“)
Thomann ist im Mai 1971 zu Gast auf der
„Experimenta 4“, T.A.T. Frankfurt. Thomanns Installation trägt den Titel
„Positronengehirn“. Thomann lernt Valie Export kennen und bietet ihr seine
Hilfe für ihre Performance „Eros/ion“ an.
17. Oktober 1971: „Sun-Ra“-Konzert in
Donaueschingen. Dort Treffen mit Karl-Heinz Stockhausen, berühmte „Rasenszene“.
(„Es gab Zoff.“ – Thomann im Interview mit Martin Büsser/testcard)
Kontakt zum Dirigenten Krysztof
Penderecki.
Am 4. Dezember 1971 wird die erste
McDonald’s Filiale in Deutschland (Martin-Luther-Straße/München) eröffnet.
Gemeinsam mit dem Wiener Fleischhauer
Jirí Sukop schneidet er mit einer Kreissäge den Schriftzug von „McDonald’s“ aus
mehreren Rinderhälften und trägt diese mit Freunden in der Martin-Luther-Straße
auf und ab.
„Ich habe zuletzt in der
BRD meine Abrechnung mit der Natur, d.h. eigentlich den Pflanzen gemacht. Aber
Fleisch ist um nichts besser. Unsere Kühe bellen fürs Napalm über Vietnam, so
wie sie vorher für die B-52 über Korea gebellt haben; sie bellen für die USA,
sogar in Österreich und erst recht in der BRD bellen sie für die Amis in
Vietnam, fragen sie Jirí. Und auch die Arbeiter im Westen, vielleicht auf der
ganzen Welt, sie tun das gleiche; alle bellen sie für die Amis in Vietnam, und
auch für die Deutschen in Vietnam, und die Österreicher usw. Und auch die RAF
kämpft in Vietnam, und wenn sie Napalm hätten, dann würden sie auch das
einsetzen und ganz Deutschland entlauben, und dann wären sie endlich ... Kunst,
Theorie und Praxis in einem. In kunsthistorischer Dimension. Das wäre dann Kant
hoch drei. Vielleicht hoch n.“ (Radiointerview im Österreichischen Rundfunk)
1972
Am 27. Februar 1972 wirft Thomann vier
Kilogramm Pfeffer vom Münchner Olympiaturm. Er wird von der
Experimentalfilmerin Sandra Berchtold gefilmt („Serschant Pfeffer“/Berchtold
1972).
Thomann gestaltet die Diashow „Fettauge“
für das Münchner „Musik Dia Licht Film Festival“.
Am 30. Juni 1972 wird die „Documenta 5“
in Kassel eröffnet. Thomann ist (neben anderer Maler, etwa Charles Close)
eingeladen und soll sein Gemälde „Anna“ ausstellen. Dies geschieht allerdings
nicht: Womit Thomann im Zuge der fünften „Documenta“ endgültig bricht, ist die
Idee der Linearität, der Dichotomien, des dichotomischen „Weiter“, wie
es Diedrich Diedrichsen in seinem Buch „Sexbeat. 1972 bis heute“ beschreibt.
Ken Kesey kommt ins Spiel, den Thomann aus Tom Wolfes „The Electric Kool-Aid Acid Test“ kennt.
„Ich habe hier eben den
Redner gesehen, der vor mir hier oben stand … was er gesagt hat, konnte ich
nicht verstehen … aber den Ton hab ich noch im Ohr … und ich konnte hören, wie
euer Echo auf ihn zurückkam … und die Gesten konnte ich sehn … und ich konnte
sehn wie sein Kinn vorsprang … so … als Silhouette gegen den Himmel … und wißt
ihr, wen ich sah … und wen ich hörte? … Mussolini … Ich sah und hörte hier eben
Mussolini … vor ein paar Minuten … tja … ihr spielt denen ihr Spiel …“ (Ken Kesey)
Gottfried Bechtold konzipiert für die
„Documenta“ eine aufsehenerregende Konzeptkunst-Performance. Thomann betrachtet
Gottfried Bechtold Werk, reflektiert über seine eigenen Pariser Tonaufnahmen,
erkennt sie als Ideen des „Weiter“, sagt die Einladung zur „Documenta“ ab,
fährt aber dennoch nach Kassel. Thomann besucht jedoch kein einziges Mal die
„Documenta“. Thomann meidet die Ausstellungsorte (Museum Fridericianum,
Friedrichsplatz und die Neue Galerie).
Gottfried Bechtold stellt seinen Beitrag
unter das Motto: „Überwachung“, großer Bruder. Er geht den ganzen Tag, die
gesamte Dauer der „Documenta“ (100 Tage) in Kassel umher und lässt stündlich
über mehrere Lautsprecher seinen momentanen Aufenthaltsort durchsagen. Dazu
notiert er diese Durchsagen und sammelt sie sorgfältig in einem Ordner: „Herr
Bechtold hält sich derzeit am Marktplatz auf.“ Thomann, von Foucault
beeinflusst, sieht in Bechtolds Aktion die lächerliche Inszenierung der
Repräsentation. Weitere Kämpfe am Schauplatz der Dialektik scheint Thomann
nicht mehr gewillt auszufechten (die enttäuschende Begegnung mit Gudrun
Nabermeyer und das ihm unzugängliche Kommunendasein tragen dazu bei).
Didi Bruckmayr schreibt in einer Analyse
in Skug #4 (1991): „Thomanns Aktion bestand darin, Bechtold zu erreichen zu
versuchen, strikt an den Lautsprecherdurchsagen orientiert. Ohne konkretes
Ziel, dafür mit Aufnahmegerät und Tonbändern bepackt, um die eigene Suche
andauernd dokumentieren zu können. Leider sind die Tonbänder nicht zugänglich,
es ist daher unbekannt, wie diese Dokumentation vor sich ging und ob Thomann
auch eigene Kommentare und Beobachtungen sprach. Weiters ist nicht klar, ob er
sich nachträglich noch mit den Bändern beschäftigte und eventuell Kommentare
hinzufügte. Die Aktion mußte jedenfalls nach zweieinhalb Wochen abgebrochen
werden, am 3. August befand er sich, wie Heinz Karner notierte, wieder in
München. Grund war offenbar die enorme Last, die Thomann jeden Tag zu tragen
hatte.“
„Das einzige, was ich
dieser Gesellschaftsformation ankreide, ist, daß sie es mir nicht erlaubt, auch
die Geräte, mit denen ich ihre Simulativität beweise, virtuell/simulativ mit
mir herumzutragen“, sagt Thomann 1972 im einzigen bekannten Kommentar zu dieser
Aktion („Münchner Bote“). Sein Verschwinden, seine Nicht-Anwesenheit scheint
tatsächlich weitgehend lückenlos stattgefunden zu haben, jedenfalls sind keine
Berichte über die Aktion in der Literatur zu finden. Die Tonbandspulen sind
verschwunden.
„[...] Hier wird das
Motiv des Untertauchens, Verschwindens wieder erkennbar, das schon 1969 in
Paris mit seiner Aktion „Le dieu inconnu“ angetastet wird; die Frage der
(unmöglichen) Dokumentation des eigenen Verschwindens, Heinz Karner hat das
„klaustrophobisches Karies“ genannt: langsames Zerfressenwerden, aktiv
verweigerte Körperhygiene gewissermaßen. Um das nicht als Metapher stehen zu
lassen und damit einer Kulturkritik zu überlassen, die irgendwann wieder mit
der Forderung nach „Auftauchen“ kommen würde, gab es zwar keine Idee eines „Weiter“ mehr
- aber auch kein „Zurück“. Möglicherweise mag es Thomann in der
konkreten Situation nicht derart dichotom und konsequent erschienen sein, der
Bruch, begonnen in der Theorie, scheint retrospektiv betrachtet aber damit auch
persönlich endgültig gewesen zu sein. [...]“ (Quelle: RE-PLAY. Anfänge
internationaler Medienkunst in Österreich, Publikation der Generali Foundation)
August 1972 (vor allem als Reaktion auf
die Hysterie anlässlich der Olympischen Spiele) beginnen Peter Grabner
(Nürnberger Schauspieler), Jürgen Benedikt (Techniker beim BR) und Thomann an
der Arbeit für das Hörspiel „Edelhagen“. Erzählt werden soll die
Geschichte Kurt Edelhagens, des Komponisten der Swingmusik des großen „1972er
Einzug der Nationen“.
Der Überfall auf das Olympische Dorf
Anfang September verändert die Thematik des Hörspiels allerdings radikal. Das
Projekt „Edelhagen“ wird gestoppt.
Thomann wirkt im September 1972 bei
einigen Musikproduktionen im Umfeld von Cluster, Faust (bedient für einige
Live-Performances die präparierte Mischmaschine) und den zum Neo-Hippieismus
gewechselten Amon Düül II mit.
Thomann verdient sich etwas Geld mit
Sprecherarbeiten für Hörspielproduktionen für den Bayrischen Rundfunk. Diese
Tätigkeit verrichtet er anonym.
Oktober 1972: Grabner, Benedikt und
Thomann beginnen mit der Arbeit an „Molch“. (Ursprünglicher Titel „Keiner
Willy Brandt“)
27. November 1972: Ausstellungseröffnung
in der Münchner Galerie Roksa, Installations-projekt „Krakatau“. Thomann
verteilt Flugblätter, auf denen er erklärt, dass ihm „von nun an alles wurscht“
sei und er die Installation verschenke „an den Erstbesten der drüberstolpert“.
Tumulte vor der Galerie und ein kleines Foto in der Münchner AZ.
5. Dezember 1972: Fragebogen in der
„Zeit“. Thomann lobt Franz-Josef Strauß für dessen Haarschnitt. Erklärt, dass
er nie Kunst gemacht habe, nun aber damit beginne. Thomann verbietet sich
selbst auf unbestimmte Zeit die „Musikproduktion“.
10. Dezember 1972: Einladung nach Wien.
Thomann trifft bei einer Podiumsdiskussion mit dem Videokünstler Richard
Kriesche zusammen. Die Arbeiter-Zeitung schreibt: „Reger Gedankenaustausch
zwischen zwei, die sich darüber hinaus nichts zu sagen haben.“
1973
Januar 1973: Thomann, Grabner und
Benedikt beenden ihre Arbeit an „Molch“. Das mehrstündige Hörspiel wird
auszugsweise am 5. Januar 1973 im Bayrischen Rundfunk ausgestrahlt. Die
Kritiken sind mittelmäßig. „Fatales Unbekümmertsein und hoffnungslose Trägheit“
wittert etwa Gustav Kraner von den Salzburger Nachrichten.
Am 14. Februar 1973 stellt Thomann in der
Galerie Freisach, München, seine Skulptur „Das dritte Auge“ vor, eine
antik wirkende Frauenstatue mit Oszillator-Kopf. Während der Festrede der
Vernissage verursacht Thomann in seiner Skulptur einen Kurzschluss indem er
einen Eimer Olivenöl darübergießt.
Die FAZ werten diesen Akt als
„Ehrenrettung einer Geschmacklosigkeit“.
Thomann schreibt einen Artikel über die
Sioux in der Marburger Alternativ-Zeitschrift „Lepra“, denn am 1. März
besetzen einige hundert bewaffnete Sioux-Indianer den Ort Wounded Knee im
amerikanischen Bundesstaat South Dakota. Wo 1890 eines der letzten Massaker an
„Native Americans“ stattfand, protestieren Sioux nun gegen die Zustände in
ihren Reservaten.
Thomann beschließt den kritischen Text
mit der Ankündigung von situationistischen Aktionen in München. Er plant,
Flugblätter zu verteilen, auf denen die Passanten aufgefordert werden „Schmerzen
zu ertragen“, sie seien ja „Indianer“.
Thomann wird zur Ausstellung „Neue Medien
- Neue Methoden“, Randspiele Bregenz (die im Palais Thurn und Taxis, Bregenz
stattfinden soll) eingeladen. Unter anderem sollen Gottfried Bechtold, Heinz
Gappmayr, Taka Imura, Urs Lüthi, Fred Sandback und Franz Erhard Walther
ausstellen. Thomann lehnt ab. („Vorarlberg sieht mich nie wieder!“, zit. nach
Peter Kienast)
Anfang April 1973: Thomann verlässt die
Bundesrepublik Deutschland um in die USA zu reisen. Anlass für diese
Entscheidung ist die Meldung, dass der letzte GI vietnamesischen Boden
verlassen hat.
Thomann definiert den Aufbruch in die USA
als Flucht, „für eine weitere Viertelstunde mit Warhol“ (Thomann). Bei der
Zwischenlandung in New York sieht Thomann am Flughafen eine Fernsehshow, in der
Iggy Pop von den Stooges eben gefragt wird: „Mr. Pop, whom did you help?“,
und der darauf antwortet: „I think I helped wipe out the Sixties.“
Thomann nimmt einen Markierstift und schreibt auf den Fernseher: „I wiped out
Weltliteratur.“
Vorerst will er sich nur „einige Monate“
in den Vereinigten Staaten aufhalten.
Thomann zieht nach San Francisco, wo er
in Douglas Houfmans/Craig McKennas „Nonterritorial“, einer kleinen Künstler-Wohngemeinschaft
in der Height Street, einzieht.
Ende April schreibt er seine
Kurzgeschichte „United Karies“ („Karies“ als Anlehnung an Heinz Karner), die
erst im Jahre 1978 im Berliner Kleinverlag „edition St(r)ichpunkt“
veröffentlicht wird.
Thomann veranstaltet, gemeinsam mit Fred
Dunnan, eine Vorlesungsreihe zu „Strategic Art“ am California College of
Arts and Crafts. Die LA Times lobt die
Vorträge: „We will never be surprised ever again.“
Am 8. Juli 1973 erfährt Thomann vom Tod
Max Horkheimers.
In Memoriam Max Horkheimer beginnt er mit
der Sammlung von alten Fotografien.
Im Zuge dieser Arbeit konzipiert er ein
Langzeitprojekt und nennt es „Personal Deaths“. Im Laufe der nächsten
zwei Jahres präsentiert er in der San Franciscoer Galerie „Propper Gallery“
immer wieder „Personal Death Events“, bei denen er mit langsamer,
monotoner Stimme persönliche Erinnerungen erzählt, die er mit jüngst
verstorbenen Menschen in Verbindung bringt. In dieser Reihe performt er die
Tode Pablo Picassos, Max Horkheimers, Ingeborg Bachmanns, Duke Ellingtons,
Erich Kästners und Charles Lindberghs.
„Die starke
Auseinandersetzung mit Sentimentalität und Ende, die mir vor allem in dieser
Zeit in San Francisco begegnete, entlud sich in den Todesperformances. Förmlich
in Trance urinierte ich mehrmals auf Fotografien von Kästner, Lindberghs
berühmtes Foto nach seiner Landung in Europa aß ich.“
Nachdem der US-Kongreß Nixon Anfang Juli
zum Bombenstopp in Kambodscha gezwungen hat, tritt der Stopp am 15. August in
Kraft. Thomann nimmt das Video „12“ auf. Das Video besteht aus verschiedenen,
zufällig auftretenden, schnell geschnittenen Standbildern der Zahl 12 (auf
Plakatwänden, auf Speisekarten, Autonummern, etc.)
„12 war die Anzahl der
Jahre der amerikanischen Interventionen in Indochina. Ich wollte diese Zahl
festhalten und mit Alltagserfahrungen der amerikanischen Nation querschneiden.
Die Zahl 12 präsentiert Anfang und Ende des amerikanischen Traums. Vollgesogen,
ausgekotzt.“
August 1973: Thomann zieht in eine
Wohnung in San Jose (Delaney Ave).
Dort beginnt er Ende September mit der
Arbeit an seinem Buch „The Past and the Future“.
Thomann bezeichnet sich selbst in einem
Brief an Margot Morauer als „aufgeschwemmt“.
Am 2. Dezember 1973 prägt Thomann im
Rahmen der Podiumsdiskussion „Energy War“ an der California State University
(Hayward) das Schlagwort der „Petrol based lifeform“.
1974
Ab Januar 1974 ist Thomann neben seiner
Arbeit als Künstler auch Kunstkritiker des amerikanischen Magazins „Newsweek“.
Seine Texte zur Gegenwartskunst erscheinen unter anderem in „Art Form“.
„Good Gifts for Oyster
Oilers“ (seine erste Rezension) wird heftig attackiert. Die Chefredaktion
ist begeistert.
Januar/Februar 1974: Coast to Coast-Tour von San Jose nach New York. „Newsweek“ stellt ihm einen Jeep zur Verfügung
nachdem Thomann verspricht „auch die entlegensten Kunstwerke am Weg zu finden“.
In Los Alamos lernt er den Friedensaktivisten Ed Grothus und seine
Atommüllsammlung kennen. Thomann schlägt „Newsweek“ eine große Coverstory mit
dem Titel „Atomic Ed, Radical Trash Artist“ vor. Er wird aber zu einem
sofortigen Stopp seiner Arbeit an der Story aufgefordert.
Ende Februar 1974: Thomann verbringt, auf
Einladung der New Yorker Galerie Bonino, zwei Monate in New York. In der
Galerie stellt er seine Medienskulptur „Telly“ aus und lernt Nam June Paik nun
erstmals persönlich kennen.
Der „New Yorker“ lobt „Telly“ als „übertreffendes
technisches Niveau und Homogenität der Kritik“, besonders interessant sei
der Aspekt des mechanischen Hundes im Zentrum des Aufbaus.
In Anlehnung an Pryne Davids
Fernsehperformance „Pra“, die er 1971 beim Washingtoner Fernsehsender
W.T.O.P-TV durchführte, will Thomann auch in der Bay Area den Versuch starten,
das Massenmedium Fernsehen zu „entmassen“. Sein Projekt „Dad Dee“ wird
am 4. Januar 1974 auf K.T.N.F. Oakland durchgeführt.
Am 21. Februar 1974 hat William Friedkins
Horrorstreifen „Der Exorzist“ Kinopremiere. Bereits im Vorfeld gibt es
Proteste gegen den Film, dieser würde exzessive Gewalt zeigen. Thomann besucht
den Film und macht Super-8-Aufnahmen. Diese montiert er mit Filmmaterial von
Obdachlosen. Während der Präsentation des Films in der Mayfield Gallery, Palo
Alto, liest Thomann Teile aus „Moby Dick“ und der amerikanischen Verfassung
vor.
„Es war drastisch und notwendig.
Ich fühlte mich gut. Ich hatte etwas getan. Es war eine geschickt eingefädelte
Selbsttäuschung. Ich übte es, amerikanischer Künstler zu sein. Ich wollte
amerikanischer Künstler sein. Und doch war ich nur ein Idiot.“
Ende März Rückkehr nach Kalifornien.
Am 4. April 1974 gibt Patricia Hearst
bekannt, sich der „Symbionese Liberation Army anschließen“ zu wollen. Die „SLA“
hat die Tochter des Medienzaren Randolph Hearst am 4. Februar 1974 entführt um
Lösegeld zum Ankauf von Lebensmitteln für bedürftige Menschen in Kalifornien zu
erpressen.
Thomann ist von dieser Situation
beeindruckt, will sich aber auch mit der Rolle Hearsts und der
Medienberichterstattung („Media Buttocks!“) auseinandersetzen. Er läuft
durch den Campus von Berkeley und vervielfältigt Flugblätter, auf denen er
offiziell erklärt, in Patricia Hearst verliebt zu sein. Er verkündet, dass der
Valentinstag ab sofort für ihn der 4. April sei. Er errichtet einen fahrbaren
Schrein auf einem alten Ford, der mit Papierherzen, Plastikblumen und Spielzeugpistolen
verziert ist. Diese Aktion wird unter dem Titel „First Campus Happening“
bekannt. Eine Studentenzeitschrift beschreibt die Aktion als „unvollkommene
und unkritische Prüderie“. Thomann beschimpft die maßgeblich beteiligte
Journalistin Casey Londale als „cash cunt“.
Den Wagen schenkt Thomann der Mayfield
Gallery.
Mai 1974: Thomann nimmt über den
Videokünstler Pete Hume Kontakt zu technisch versierten Hackerkreisen auf.
Thomann selbst bezeichnet sich in dieser Zeit zwar immer als „technischen Laien,
der seinem Europäismus nicht entkommen kann“ (Art Forum, 3/89), aber
die Kontakte sind durchaus fruchtbar.
Dies äußert sich in Thomanns
Kurzgeschichte „World Game“. Thomann ist erstmals an der Universität
Berkeley mit Computernetzwerken konfrontiert, etwa mit den von den Studenten im
Computer Labor der Universität gespielten Netzwerkspielen.
„Diese transräumlichen
Spiele konfrontierten mich schlagartig mit einer völlig neuen Weltsicht. World
Game spiegelte diese Erfahrung in literarischer Form.“
Mai 1974: Thomann erarbeitet die
Satellitenperformance „Globetrotting“.
Unterstützt wird er dabei vom Contemporary
Arts Museum in Huston und dessen Direktor James Hariths, der die
erste Videoabteilung am Everson Museum in Syracuse einrichtet.
„Ich wollte unbedingt
etwas mit Satelliten machen. Das war das große Unbekannte, und darum exotisch.
Ich wollte es benutzen, um damit ein sehr avantgardistisches, konzeptuelles
Video zu verbreiten, etwas, das niemand erwartet oder sich gewünscht hatte. Ich
wollte raus, ich wollte in den absoluten geometrischen Raum.“ (Thomann in
einem Gespräch mit der Filmemacherin Kathrin Resetarits, 1998)
Thomann macht Bekanntschaft mit Ted
Dabney von Atari. Gemeinsam mit Dabney designt er die Videoskulptur „Nevermore
Nuppy NBC“ für das Mojo Art Festival (San Francisco, 4. Juni bis 16.
Juni).
„Historisch betrachtet
kann die Geschichte der Medienkunst, wie sie sich heute darstellt, aufgrund
ihrer technologisch-medialen Innovationsschübe zum Beispiel in drei Abschnitte
geteilt werden: die frühe analoge elektronische Kunst (Video- und
Fernsehprojekte ebenso wie frühe Netz-, also Telekommunikationsprojekte), die
auf medienkritische Positionen und Erfindungsgeist in den Sechzigern und
Siebzigern aufgebaut hat, die mittlere digitale - also computergestützte -
Medienkunst mit ihrem Schwerpunkt auf den Möglichkeiten der Interaktion
zwischen Programm und UserIn und auf die sogenannten Interaktiven
Installationen und Environments, und schließlich die Phase des Internet mit
seiner hypertextartigen, vernetzten Struktur, Grundlage für das Phänomen der
Netzkultur ebenso wie das der Netzkunst. Lange Zeit, bis in die Achtziger Jahre
hinein, erkannte ich nicht, dass ich in der medienkritischen Phase
steckengeblieben war.“ (Art Forum, 3/99)
Thomann trägt ein lebensgroßes Kruzifix
durch den Campus von Berkeley. An die Hände der Jesusfigur sind Telefonhörer
genagelt. („Second Campus Happening“, 1. August 1974)
Dezember 1974: Craig McKenna, Hannah
Perch und Thomann realisieren das Projekt „Collateral Crunch“.
„Collateral Crunch war
eines der schönsten Projekte in dieser Zeit. Die Installation wurde von Nolan
Bushnell von Atari, den wir für die Aktion faszinieren konnten, finanziert.
Collateral Crunch war eine elf Meter hohe Stahlkonstruktion in Form einer geballten
Faust mit integrierter Teslaspule, die wir in viermonatiger Arbeit im Hafen von
Oakland errichteten. Craig lief als gelackter Moderator im roten Plüschanzug
mit einem rohen Puter in der Hand auf und ab und kommentierte die Collateral
Crunch Show. Das war eine ungeheuer kraftvolle Aktion. Ähnliche Performances
sollten dann in den frühen Achtziger Jahren von Craig McKenna und Mark Pauline
(Industrial
Research Labs) und der Cacophony Society (die Burning Man
Festivals ab 1985) realisiert werden. Aber das interessierte mich dann nicht
mehr. Das war vorbei. Das war nur noch Siebziger.“
1975
Januar 1975: „Während eines Interviews
mit dem San Francisco Chronicle wurde ich auf die politische Situation in
Deutschland angesprochen. Die Verhaftung zahlreicher RAF-Mitglieder, die Peter
Lorenz Aktion der Bewegung 2. Juni, etc., ich antwortete, natürlich provokativ,
dass mich das alles nicht interessieren würde. Dieses Zitat hing mir noch Jahre
nach. Aber vielmehr ging es um die Richtigstellung der Positionen. Ich erzähle
Amis nichts über die RAF. Die sollten vielmehr mir etwas von den Black Panthers
erzählen.“
Thomann
beendet die Arbeit an „The Past and the Future“.
Das Buch wird im Februar 1975 in
englischer (HarperCollins) und im April 1975 in deutscher Sprache (Pranke,
Stuttgart) veröffentlicht.
Thomann zieht Februar 1975 nach New York.
Er kollaboriert informell mit
Künstlergruppen wie den „Video Freex“ und „Raindance“. Dabei entstehen bis Ende
April fünf Ausgaben der „Transition Tapes“.
-
„Transition One“
-
„Transition More“
- „Transition Less“
- „Detransition -
Weinstein Sighs“
- „Jupiter Five“
April 1975: Als Teil der Künstlergruppe „NY
OFF“ beruft Thomann am 3. April eine Pressekonferenz ein und äußert den
Wunsch, New York im Ozean zu versenken („Wipe it out water! Clean it up! Waste to Waste! You Mighty Atlantic!“). Aus den diversen Reaktionen in der Presse collagiert er einen
Wandteppich.
„Ich hatte immer das
Bedürfnis, Bilder, Ideen, Klänge durch diese Wände der sogenannten
Medienkategorien zu bewegen. Ich habe eigentlich nie etwas in nur einem Medium
gemacht. Ich habe vielmehr mit viel Vergnügen Video oder Webvideo oder Websites
mit Zeichnungen, Fotografie, Drucken, Objekten und Theater kombiniert. Mir geht
es darum, die Medien zu zerstören. Die Massage ist das Medium, das habe ich
wenigstens zu der Tochter von McLuhan gesagt, die in den 70er Jahren mit mir
befreundet war. Sie gab mir recht. Der andere Mythos über mich ist, dass meine
Arbeit der „Kommunikation“ gewidmet ist. Ich glaube nicht an Kommunikation! Ich
glaube an das große Abenteuer, Kommunikation zu 'versuchen', besonders über
große Distanzen, sei es Zeit, Sprache, Raum, Geografie oder Geschlecht. Das ist
eine besondere Herausforderung. Es funktioniert fast nie, außer in einem kurzen
Augenblick oder zwei. Scheiße, diese Sekunden suche ich. A rolling stone gathers no moss.“
(aus
einem Interview für „Art Forum“, 8/99).
Mai 1975: Thomann wird wegen
Körperverletzung angezeigt, weil er in einer Bar in Queens aus unbekannten
Gründen den Lastwagenfahrer Barry Wolping verprügelt. Thomann muss 3500 Dollar
Schmerzensgeld bezahlen und steht vor dem finanziellen Ruin.
Am 19. September wird Patricia Hearst
festgenommen. Kurz daruf entsteht „Jupiter Sex“ (als 6. Teil der „Transition
Tapes“), vorerst nur in einer Werkkopie.
Am 1. November wird Pier Paolo Pasolini
ermordert. „Jupiter Seven“ ist ihm gewidmet. Die „Transition Tapes“-Reihe
ist beendet. Das New Yorker Künstlerehepaar Melanie und Charlton Kellis
finanzieren „Jupiter Sex“ und „Jupiter Seven“.
Melanie und Charlton Kellis nehmen
Thomann Ende November mit ins CBGB‘s, wo die Gruppe Suicide auftritt.
Während des Konzertes greift deren Sänger, Alan Vega, unaufmerksame
ZuschauerInnen an und würgt sie mit dem Mikrophonkabel; darunter auch Thomann: „Das
war irgendwie die totale Befreiung aus dieser Haltung, die man einem halt
anerzogen hat, daß mich dieser Sänger - Alan Vega - da direkt angegriffen hat.
Das war neu, anders, wild, unmittelbar, gefährlich, geil. Das Kunstwerk
schlägt zurück! Dabei wurde mir klar, daß die kommende Musik anders
funktionieren müsse. Ich wußte in dem Moment, daß in der ganzen Rocksache doch
noch eine Form von Energie enthalten ist, die auf so einer The Medium is
the Message!-Ebene funktionieren kann. Und das hat irgendwie mein Leben
total verändert. Und vor allem auch meinen Zugang zur Musik. Mir ging es von da
ab nicht mehr darum mit elektronischen Geräten Musik zu machen,
sondern mit Musik elektronische Geräte herzustellen; also ganz bestimmte
Zustände von sozialen Intensitäten.“ (aus einem Gespräch mit der
amerikanischen Performance-Künstlerin Ruth Jesus in der Zeitschrift „Transpect“,
1992)
Als direktes Resultat des „Suicide-Erlebnisses“
beschließt Thomann, das am 5. Dezember 1972 gewählte Eigen-Verbot der
„Musikproduktion“ aufzuheben. („Bertelsmann hat mich wieder!“)
Im Dezember 1975 beginnt Thomann mit der
Arbeit an seinem Filmprojekt „Becoming Beast - The False, Part 1“.
1976
Januar 1976: George Gallaghers
Theaterstück „Prawn“ wird am 12. Januar im „Dandy Theater“ uraufgeführt.
Thomann übernimmt für vier Aufführungen die Rolle des „namenlosen Bankiers“.
„Amerika langweilte mich
zusehends. Ich verließ tagelang nur für Einkäufe das Haus. Die New York
Euphorie war schnell abgeklungen. Ich fühlte mich unbehaglich, leer, es ekelte
mich an. Ich lief die Fifth Avenue auf und ab und beschimpfte die PassantInnen
in vorarlbergerischem Dialekt. Ich fühlte mich wie Walter Matthau in Bern.“ („Dobie
Magazine“, 1993)
Für den 13. April 1976 wird in San
Francisco das Urteil im Hearst-Prozess erwartet. Thomann plant zwar schon seit
Wochen seine Abreise aus den Vereinigten Staaten, möchte aber die
Hearst-Performance beenden. Er reist nach San Francisco, wo er schreiend vor
dem Gerichtsgebäude auf und ab läuft, er sprayt in riesigen Lettern „Last
Chance“ auf den Gehsteig. Mit Bekanntgabe des Urteils - 35 Jahre Haft für
Hearst - entwendet er den Ford-“Schrein“ aus der Mayfield Galery und versucht,
ihn in der Bucht zu versenken. Er wird für fünf Tage in Untersuchungshaft
genommen. („Ich fühlte mich wie Bern in Walter Matthau.“) Danach
verlässt er die Staaten. („Den 200-Jahr-Feiern bin ich entkommen.“)
Thomann besucht Mitte April 1976 für etwa
zwei Wochen bekannte Künstler in Jugoslawien, Gerüchten zufolge auch den
Künstler/Intellektuellen Goran Dordevic. In einem größeren Skoda-Bus fahren sie
auch zu den Drehplätzen der Winnetou-Filme an den Plitvicer Seen. Dordevics
Bild „Win Tito“ ist (laut „Südkunst 80“, Hrsg.: Fred Korner)
Thomann gewidmet.
Anfang Mai 1976: Thomann trifft in London
ein; lebt zunächst in der Post-Hippie-Kommune „Relay“ um Ken Granger und
Ariadne George und nimmt an deren „Commune-Non-Communicate“-Experimenten
teil: geplante mehrwöchige Kommunikationsabbrüche zwischen den Kommunarden.
In einem programmatischen Text wird das
Ziel dieser Aktion statuiert als: „To not have any selbsterfahrung
[im Orig. deutsch] for several weeks“. Als die sechzehnjährige
Drogensüchtige Meryll Parish am Abend des 18. Mai 1976 mit einem Messer auf Ken
Granger einsticht und diesen schwer verletzt, wird das Experiment abgebrochen.
Während des sich anschließenden Prozesses
gegen Ken Granger wegen Unzucht mit Minderjährigen lernt Thomann den Londoner
Psychiater Thornton Stark kennen, der in Fachzeitschriften mehrere Aufsätze zu
„Schizo-Analyse“ und „Anti-Psychatrie“ publiziert hat. Stark lädt Thomann zu
der Eröffnung der von ihm kuratierten Ausstellung zur „Kunst von
Psychatrieinsassen“ in der Galerie „Perjury Arts“ ein, bei der Michel
Foucault einen Vortrag hält. Thomann beginnt sich in der Folgezeit für
„minoritäre Kunst“ zu interessieren.
Juli 1976: Besuch in Malcolm McLarens „Sex“-Boutique.
Plan zur gemeinsamen Herausgabe einer situationistischen Zeitschrift; McLaren
spielt Thomann Aufnahmen der Gruppe Sex Pistols vor; Thomann schlägt
McLaren vor, den in Brasilien lebenden Posträuber Ronnie Biggs als Sänger für
ein Bandprojekt zu rekrutieren.
Thomann gründet mit einigen Besuchern von
McLarens Boutique, darunter der spätere Ashtrays-Sänger Pat Riot, die
Punkband Bourgeois Guillotines, zwei Auftritte im Roxy im Juli
und August.
11. August 1976: Aktion „In the
Ghetto/6 Elvis-Impersonators Can’t Be Wrong“ im Sohoer Club „Laundromess“:
sechs taubstumme Elvis-Imitatoren treten auf, die Elvistexte in Gebärdensprache
vortragen zu Dixieland-Versionen von Elvis-Hits, die von der
Avantgarde-Jazz-Gruppe Nasal Five-o-Clock-Bop gespielt werden. Thomann
lässt dazu Wochenschau-O-Töne von der Bombardierung Londons einspielen.
Einer der Elvis-Imitatoren wird von einer von einem anwesenden Punk geworfenen
Bierflasche verletzt. Nach dem Konzert lernt Thomann Genesis P. Orridge kennen,
der sich von der Performance begeistert zeigt und Thomann Aufnahmen der Throbbing
Gristle vorspielt.
„When I first met Thomann he seemed to
glow from within like a heretic on the stake. When I last met him three months
ago he was a burnout. All life had vanished from his eyes.“ (Genesis P. Orridge
in „Wreckers of Civilisation“)
September 1976: auf der „Robo Art“-Ausstellung
in der legendären Galerie Discharge trifft Thomann die Kunststudentin
Doris Lasser, die dort eine filmische Montage über ihre Bulimie-Erkrankung
zeigt („Women Vomit for their Right“).
Oktober 1976: die Bourgeois
Guillotines spielen die Single „Dresden Bombs Got Me High/ Don’t Blame
the Messenger, Shoot Him/Wreck the Structures/Nothern Industries“ ein, die
im April 1977 auf Casual-Records erscheint. Das Cover bildet eine
Collage von Thomann, auf der zu sehen ist, wie Joseph Beuys Kopf explodiert. Darunter ist zu lesen: „This is not a pipe! It’s the head of Joseph
Beuys exploding“.
Winter 1976: Thomann zieht mit Doris
Lasser auf einen Bauernhof in Essex und experimentiert mit Synthesizern; durch
die Erfahrung von Punk erhält sein Konzept von elektronischer Musik eine neue
Wendung; Thomann beginnt wieder zu malen.
Bei einem Besuch in London
Kontaktaufnahme mit der Künstlergruppe „The Art&Language“, in deren
gleichnamiger Zeitschrift Thomann die Aufsätze „The Micropolitics of a
Shellac-Record“ und „The Non-Sociologic Concept of Modern Communication“
veröffentlicht; Mayo Thompson lädt Thomann ein, an Aufnahme-Sessions der Gruppe
The Red Crayola teilzunehmen.
1977
Am 3. Februar 1977 verschickt Thomann
einen Massenbrief mit dem Text: „Rückzug als Umland.“
März 1977 nimmt Thomann das Experimental-Musik-Stück „Duo für
einen Zahnarztbohrer und einen schwitzenden Patienten“ auf.
24. Juni 1977 bis 2. Oktober 1977:
Teilnahme an der „Documenta 6“.
Anlässlich der Schleyer-Entführung im
September zerstört Thomann spontan seine „post-medienkritische“ (Hajo
Schönherr in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung) Installation „Einsilbiger
Ranschmiß auf dem Tabular der Angst- und Freudenballistik. Affirmation ist die
radikalste Form der Affirmation - Kritik ist die zweitradikalste Form der
Kritik“ sowie die von ihm ausgestellten Bilder „Fick mich, Blinky
Palermo“, „Nackte Japanerin fotographiert eine Suppendose“, „Ratlos:
Documenta-Chef Manfred Schneckenburger“, „Kriegsversehrter vor
Francis-Bacon-Bild“ und „Asynodisches Verhalten für alle!“ und
erklärt dies zu der Installation „Schleyer der Maya“. Parallel dazu
verteilt Thomann über das gesamte „Documenta“-Gelände Suchaufrufe mit
Schleyer-Fotos und der Bildunterschrift „Hund entlaufen! Hört auf den Namen Hansi“,
teilweise werden diese auch über die Exponate anderer Künstler gehängt. Eine
Klage von Anselm Kiefer kann von der „Documenta“-Leitung gerade noch
abgewehrt werden, da es einem Frankfurter Restaurator gelingt, Kiefers Bild „Nibelungen-Schwermut“
ohne größeren Schaden wieder in seinen ursprünglichen Zustand
zurückzuversetzen. Das Medienecho auf Thomanns Aktion ist enorm. Die Bildzeitung
titelt: „Jetzt reichts! Kunstlump verunglimpft entführten
Arbeitgeberpräsidenten!“, der Nachrichtensprecher Karl-Heinz Köppke spricht
in der Tagesschau von einer „in der Geschichte der modernen Kunst
beispiellosen Entgleisung“ und der CDU-Politiker Friederich
Zimmermann verlangt öffentlich den Ausschluss Thomanns von der „Documenta“.
24. November 1977:
In der Düsseldorfer Galerie Henschke
nimmt Thomann erneut Bezug auf die Schleyerentführung mit der Installation „Schleyer-Haft,
Yeah!Yeah!Yeah! (Let’s Figure Them
Out!)“. Auf einem Podest befindet sich eine
Badewanne, die Spanholz-Platten, Schrauben, eine Kleiderstange, braune
Holzfarbe etc. enthält. Eine Hinweistafel: „Dieser Bottich enthält -
verhältnisgetreu - das elementare Material für einen genormten Einbauschrank.
Wäre er gebaut worden, hätten in ihm folgende entführte Personen der absoluten
Zeitgeschichte bis zu ihrer Hinrichtung eingesperrt werden können. Yeah! Yeah! Yeah!“. Hier schließt sich eine
Liste mit fast 200 Namen von Politikern und Prominenten an, darunter Karl-Heinz
Köpke, Friedrich Zimmermann, Anselm Kiefer etc. Hausdurchsuchungen sowohl bei
dem Galeriebetreiber Hansmartin Henschke als auch in der Wohnung eines
Mitgliedes der Künstlergruppe Minus Delta t, bei dem Thomann während
seines Aufenthalts in Deutschland wohnt, werden angeordnet, bleiben aber
ergebnislos.
1978
Januar 1978: die Beziehung zu Doris
Lasser gerät in eine Krise; es kommt zu einer Scheinschwangerschaft und
anschließender Trennung.
Thomann kauft sich einen Korg MS-20-Synthesizer; er nimmt das
Stück „Frauen für schlechte Tage“ auf, nachdem sich später eine Berliner
Band aus dem Umfeld der Genialen Dilletanten benennt. Das Stück wird
später veröffentlicht unter dem Projektnamen The Year 2525 auf dem
Bremer Kassettensampler „Fruchtsäfte für Autofahrer“ auf dem Rhosa
Khmer-Label (1980)
3. März 1978: Auftritt beim Death-Music
Live-Festival im Londoner Warsaw (unter anderem mit Throbbing
Gristle, Chromosome $, Durutti Column) mit der
Radical-Noise-Gruppe Favourite Mishearings; bestehend aus Allan
Bannister, dem japanischen Kunststudenten Hoki Yakusata und Thomann am
Oszillator.
April 1978: Synthiepop mit den Dispatched
Structures in the Dark (aus denen sich nach Thomanns Ausstieg die Orchestral
Manoeuvers in the Dark konsoldieren); die Single „Agriculture is
Revolutionary Art“ (Solipsist Product; 1978) enthält Vertonungen von
Kropotkin-Texten zur russischen Agrarfrage.
Juli 1978: Thomann veröffentlicht eine
10“-Schallplatte auf Norman Carters Face-Off-Label mit experimenteller
Synthesizer-Musik: The London Symphonic Organ: Don’t Talk
(Linguistics is a Rontgen-Machine held by the Police). Das Cover zeigt eine
Collage, auf der Allen Ginsbergs Kopf explodiert.
August 1978: Thomann verläßt London um
sich vorrübergehend in Wien niederzulassen, unterhält aber weiterhin Kontakte
zur Londoner Punk- und Kunstszene; nimmt u.a. 1980 an den Aufnahmen zu der Red
Crayola-Platte „Kangaroo?“ teil und spielt mit Jowe Head von
den Swell Maps die Maxi-Single „Smashfish“ ein. (Das Cover ziert
eine Collage von Thomann, auf der Moby Dicks Kopf explodiert).
Thomann beendet nach zwei Jahren die
Arbeit an „Becoming Beast - The False, Part 1“.
Thomann knüpft in Wien Kontakte zur
Kunstszene; Thomann lernt die Kunststudenten Anton Hofer und Jiri Wechselberger
im Café Marat kennen, und spielt ihnen in seiner Wohnung Platten der Damned
und der Adverts vor; beide zeigen sich spontan begeistert und
gründen als vermutlich erste Wiener Punkband nur wenige Wochen später die Violents
(später: Tote Donau und Ernste Jugend).
Als Reflex auf seine eigene
Kunsthochschul-Vergangenheit in Wien spielt Thomann mit Xao Seffcheque
eine Single ein, die im Eigenvertrieb erscheint: The Valuable Social
Comments: „A Cheap Holiday in Erich Huber's and Albert Paris Gütersloh’s
Misery“. Der Falter schreibt: „Die Valuable Social Comments sind
die Fugs des Punkrock; Beatnikfolk hinterlegt mit maschinengewehrartigen
Schlagzeugsalven“. Das Cover zeigt eine Collage von Thomann, auf der Rainer
Werner Fassbinders Kopf explodiert.
„Becoming
Beast - The False, Part 1“ wird am 5. September 1978 im Pariser Kleinkino
„Truq“ uraufgeführt. Thomann ist nicht anwesend. Der Film läuft fünf Wochen.
November 1978: „Aburteilung Adalbert
Stifter“; Aktionstheaterstück mit Herbert Potlatsch und Ecki Ströwe an der Freien
Bühne Wien.
„Über quälende
zweieinhalb Stunden hinweg müssen wir miterleben, wie der österreichische
Volksschriftsteller Adalbert Stifter (wenig überzeugend: der Wiener
Rockkabarettist Stefan Weber) von nicht näher bezeichneten Milizionären in
futuristischen Uniformen im Bett verhaftet und vor ein revolutionäres Tribunal
geschleift wird, wo ihm dann der „historisch-kritische“, und das heißt hier
leider immer noch: „dialektisch-materialistische“, Prozeß im Namen des „Volkes“
gemacht wird, und zwar wegen seines Romanes „Der Nachsommer“. Was als
ironischer Seitenhieb auf das sogenannte „Dokumentartheater“ noch durchgehen
mag, verliert sich bald in ungustiöser Langatmigkeit und wirrer Choreographie. Ein
Chor
der Brechtschen Elemente - welch himmelschreiende Plattitüde! - der zu
harter englischer Rockmusik Ungereimtheiten vorträgt, ist wohl sicher eher ein
theatergeschichtlicher Sturmlauf im Wasserglas. Unerfindlich auch die
Urteilsbegründung: Stifter (1805-1868) habe sich in seinem literarischen Werk
für die Verwirklichung der Vernunftwürde des Menschen, seine
Vervollkommnungsfähigkeit sowie für eine erzieherische Wirkung der Kunst
eingesetzt und habe daher den Tod durch den Strang verdient, der sich
dann auch gleich als bacchantisches Volksfest mit wiederum harter englischer
Rockmusik inszenieren muß. Was Wunder, daß etwa zwei Drittel der Zuschauer es
zur großen Pause vorzogen, den weiteren Abend im Kaffeehaus zu verbringen.“
(E. Bauer in der Presse, 12. November 1978)
1979
Januar 1979: Reise nach San Diego.
Aktion „Personal Death Events
Revisited“: in den Räumlichkeiten des situationistischen
Buchladen-Kollektivs Nonidiomatic Depressions of the North versucht
Thomann öffentlich über die Tode von Gudrun Ensslin, Adorno, Freud und August
Macke zu weinen.
„Ich hatte mir das
Hochzeitskleid meiner Großmutter angezogen, die im Januar 1978, also genau ein
Jahr vor der Performance, verstorben ist. Das Gesicht hatte ich mir gelb
angemalt, um an die Opfer der maoistische Revolution zu erinnern. D.h. vor
allem: selbst erinnert zu werden. Ich finde, dass der Tod in unserer
Gesellschaft gar nicht genug tabuisiert werden kann; es ging mir darum, ein
möglichst verkrampftes Verhältnis zum Tod zu entwickeln und
auch darzustellen. Daher auch der Tod meiner Großmutter, die ich eigentlich zum
letzten Mal mit 10 gesehen habe, seit 1960 war sie in der Geriatrie
untergebracht und meine Eltern hatten von sich aus den Kontakt nicht unbedingt
gesucht, wegen so gewissen Familienstreitigkeiten. Mir gings darum, mich total
zu verkrampfen im Andenken an all diese Menschen, die mit meinem Leben ja
überhaupt nichts zu tun haben. Und ich hoffte auch, mich damit lächerlich
machen zu können. Die Zuschauer haben das leider völlig falsch aufgefasst und
waren alle sehr still, anstatt, wie ich gehofft hatte, mich beim Trauern
anzufeuern. Die Performance ist quasi gescheitert, obwohl ich extra Freibier
auschenken ließ und so ein Eisverkäufer immer durch die Reihen gegangen ist,
das war der Free-Jazz-Posaunist Emerson Albukirky, mit dem ich schon öfters
zusammengearbeitet habe.“ (Thomann in einem Interview mit G. Schöllhammer, „Springerin“,
1999)
März 1979: zurück in Wien Auftritte als
Tänzer mit Drahdiwaberl, Thomann beginnt sich in der erwachenden Wiener
Punk- und New Wave-Szene zu engagieren; ab Juni Mitherausgabe der Wiener Punk-
und Kunstzeitschrift Der Ismus.
Auf dem Gwirkst-Label erscheinen
die Kassettensampler „Überstunden der Angst“ und „Wien-Morbeat“,
die mehrere Stücke von Projekten enthalten, bei denen Thomann mitwirkt (u.a. Winterhilfswerk,
Glutamat Rund und The Nachgeburt), bemerkenswert ist, dass „I
hate Rock’n’Roll“ von The Nachgeburt eines der ersten Stücke mit
Einsatz eines Computer-Sprachprogramms darstellt (Anm.: im Gegensatz zu den
Vocoder-Experimenten von „Kraftwerk“). Diese trägt über ein monotones
Wave-Riff die Zeilen vor: „I Hate Rock’n’Roll/It’s a Bourgeois Ideology/For
Conservative People, Baby!“
Mai 1979: Auftritt beim Wiener
Muzkack-Festival für neue Musik: mit der Gruppe André Hitler; im
Juli erscheint die Konzept-LP „Wollt ihr die totale Phantasie“ (Imbus-Records;
Linz), deren Stücke sich kritisch mit der österreichischen Liedermacher-Kultur
auseinandersetzen und Titel tragen wie „Phantasie macht frei“, „Volk
ohne Phantasie“, „Phantasieunwertes Leben“, „Phantasie befiehl,
wir folgen Dir!“ und „Wir werden weiter phantasieren, bis alles in
Scherben fällt“.
„Der totale Wahnsinn. Zu
Wochenschau-O-Tönen von der Bombardierung Londons hören wir André Heller
singen: Verwunschen, verwunschen, in Nebeln verwunschen ... Dazu
schreit jemand den Satz der französischen Poststrukturalistin Lucienne Kléber: Marx,
c’est Merde! Kunst oder Pop, das ist hier die Frage.“ (Marcel
Kollatschek in der Zeitschrift Der Ismus)
Am 4. Juni reicht der Wiener Liedermacher
André Heller eine Unterlassungsklage gegen Thomann und den Linzer
Experimentalmusiker Andy Holzer ein, der schließlich stattgegeben wird. Die
noch nicht ausgelieferte Restauflage der Platte muss eingestampft werden, heute
erzielt „Wollt ihr die totale Phantasie“ auf Sammlerbörsen Höchstpreise
von bis zu 1500 Schilling.
Ars Electronica 1979:
„Project:
Bibelverfilmung“: Thomann filmt minutiös die Bibel Seite für Seite im
„Lesetempo“ ab, was simultan sowohl auf verschiedene Wände des Linzer
Brucknerhauses übertragen wird, als auch per Satellit (mittels einer von Jerry
Crestnik entwickelten Videoprojektionstechnik) auf verschiedene, zu diesem
Zweck angemietete Reklamewände in Bombay, Kabul und Kyoto. Unterlegt wird
dieser „neorealistische Sozialkrimi“ (Waltraut Schöffe in dem Wiener
Kunstfanzine „Der kleine Bellizist. Culture as Fuck“) mit O-Tönen von
Schlachtschussapparat-Tötungen von Rindern und Seminarmitschnitten von Jaques
Lacan, Lucienne Kléber und Michel Serres.
Im Anschluß an das „Project:
Bibelverfilmung“ trifft Thomann Peter Weibel, der zu diesem Zeitpunkt
Gastprofessor für „Medienkunst“ an der Gesamthochschule Kassel ist. Weibel
zeigt sich von Thomanns „Virtueller Skulptur, die Andy Warhol von den Füßen
auf den Kopf stellt“ (Weibel im Dossier) beindruckt; gemeinsam
gründen sie die Zeitschrift „Rotes Rauschen. Die Politik der Medien. Die
Medien der Politik“, in der es um ein „Zusammendenken von Marx, Virilo,
Sid Vicious und Rupert Murdoch“ (Vorwort der ersten Ausgabe) gehen soll.
„Verdammt, ich mochte
Weibel.“
Umbenennung der Gruppe André Hitler
in 100 Wasser.
Bei dem „Wien bei Nacht“-Festival
im U4 kommt es zu Publikums-Tumulten angesichts der
radikal-experimentellen Musik von 100 Wasser; Thomann beschimpft das
Publikum als „bürgerliche Scheißer“; Backstageschlägerei mit Tom
Petting, den er einen „verkackten Nazisack“ nennt.
Umbenennung der Gruppe in Der Arische
Brauer, der Liedermacher und Maler Arik Brauer reicht keine
Unterlassungsklage ein, vielmehr bedauert er Thomann öffentlich in einem Kurier-Interview.
(„Wenn er provozieren will, soll er provozieren, aber er soll ja nicht glauben
er wäre originell.“)
Baldige Auflösung der Gruppe.
4. und 5. November 1979: Teilnahme an
Milan Kuncs Konsumistischer Demonstration in Wuppertal.
„Becoming Beast - The False, Part 1“ wird
erstmals im deutschsprachigen Raum (vor allem in kleinen Programmkinos)
gezeigt.
Der Filmtheoretiker Alfred Barvinek
schreibt über „Becoming Beast - The False, Part 1“ in meteor 4/96:
„Ich habe 1979, als Vierzehnjähriger,
Thomanns Experimentalfilm „Becoming Beast - The False, Part 1“ im „Anderen
Kino“ in Linz gesehen, als Vorfilm zu „The Exorcist II: The Heretic / Der
Exorzist II - Der Ketzer“ (USA 1977, John Boorman). Ich erwartete mir damals
natürlich einen satanistischen Kurzfilmschocker und nicht etwa einen spröden
Experimentalfilm und war dementsprechend überrascht. Aus heutiger Sicht würde
ich sagen, der Film ist eine Hommage an Kenneth Anger, Jean-Luc Godard, Andy
Warhol und Valie Export bzw. eine versuchte Wiederbelebung des
Undergroundfilms. Bekanntlich hat Thomann den Film 1980 verbrannt: „Für die
Rückwendung zum Film als Medium hatte ich damals persönliche Gründe. Aber ich
merkte sehr bald, daß mit dem Film ganz allgemein eigentlich nicht mehr viel
los war. Es genügte damals eben nicht mehr, vor der Kamera einfach die Sau
rauszulassen.“ Bis 2000 ist keine Kopie des Films je wieder aufgetaucht.
Birgit Hein schrieb in
einer zeitgenössischen Kritik (FAZ): „Das reale Abbild wird weitgehend
aufgegeben. Neben der schon bekannten Mehrfachbelichtung werden Bereiche wie
Über- und Unterbelichtung, Unschärfen, durch Lichteinfall aufgelöste Bilder als
neue, rein filmische Ausdrucksmittel entwickelt.“
Hein beschreibt hier nur
die strukturellen Eigenschaften des Films. Woran ich mich noch erinnere: In
dreizehn (Kreuzweg!) je einminütigen Kapiteln versucht ein Mann, seinen Körper
mit diversen Gerätschaften zu verstümmeln, was ihm jedoch stets mißlingt.
Gleichzeitig wird auch das Filmmaterial selbst dieser Tortur unterzogen,
verstümmelt und zerkratzt. Im Off hören wir fragmentarische Text-Abschnitte aus
der „Offenbarung des Johannes“, aus dem „Anti-Ödipus“ und aus Adornos „Negative
Dialektik“. Der Film wurde auf der Aussichtsgalerie des New Yorker Empire State
Building gedreht. Immer wieder kommen erstaunte Touristen ins Bild. Auf diese
Weise wird das Verhältnis zwischen künstlerischem Kalkül und Zufall sichtbar.
Thomann selbst
behauptete wiederholt, sein Film habe Gilles Deleuze zum 6. Kapitel seines
Buches „Das Zeit-Bild“ (1985) angeregt („Die Mächte des Falschen“): „Deleuze
hatte den Film 1978 in Paris gesehen und war ziemlich begeistert. Zweifellos
hat ihn mein Film mächtig inspiriert. In dem angesprochenen Buchkapitel ist
dann aber eigentlich nur von Bigshots wie Orson Welles, Fritz Lang und
Friedrich Nietzsche die Rede. Deleuze hatte vom Experimentalfilm eben keine
Ahnung.“
Alfred Barvinek forderte diesbezüglich
schon 1998 eine intensive Auseinandersetzung in Bezug auf die Ästhetik der
Fälschung im Hinblick auf Diskurspraktiken im Dokumentar- und Experimentalfilm:
„Thomanns Oeuvre betreffend sollte dabei untersucht werden, inwieweit
Strategien der Fälschung möglicherweise eine - eigentlich schon von der sog. „klassischen
Avantgarde“ angepeilte - Rückführung der Kunst in die Lebenswelt
intendieren. Auch die Mai 1981er-Aktion von Thomann im Club 2 erscheint damit
unter neuen Gesichtspunkten.“
Im Dezember 1979 geht Thomann auf
London-Reise.
Thomann entwirft das Cover für die Pop
Group-LP „For How Much Longer Will We Tolerate Mass Murder“ und
spielt mit This Heat für eine Peel Session zusammen.
Thomann konzipiert das „Mahn- und
Warndreieck“.
1980
10. Januar 1980: Vernissage der
Ausstellung „Inform“ in der „Grazes“ Galerie, München:
„Übermalen nach Zahlen.
33-45“. Für diese Ausstellung kauft Thomann Bilder unbekannter abstrakter
zeitgenössischer Maler auf, bearbeitet diese und stellt sie mit neuen
Bildtiteln versehen aus. Zwei der Künstler klagen.
März 1980: in Köln lernt Thomann Martin
Kippenberger und Albert Oehlen kennen; es folgen gemeinsame Ausstellungen: „Hals-
und Ebenenbruch“ in der Galerie Borkowski, Hannover, (mit Kippenberger,
Tabea Blumenschein, Bohumil Pflug, Jürgen Horch und Wolfgang Müller), und „Daß
die Ausstellung typisch Mann ist, ist eine Einstellung, die typisch
Frau ist“ in der Frankfurter Galerie der Künstler (mit Oehlen,
Kippenberger, Walter Dahn, Svenja Schulte und Horst Tsche Min). Im „Forum“
Frankfurt stellt Thomann seine Bildserie „Todesfuge/Jingles“ aus, bei
der er Werbeplakate auf der Basis von Textzeilen aus Paul Celans Gedicht „Die
Todesfuge“ entwirft (u. a. für H-Milch und eine Haartönung). Ludwald Celan,
der Sohn des Dichters, klagt auf Unterlassung.
„War der Geist der
Moderne stets an konkrete Utopien gebunden gewesen, so erlebte die Kunst im
Laufe der Siebziger Jahre die vielbesprochene Götterdämmerung ihrer Werte und
die inhaltliche Entleerung ihrer utopischen Strategien. In diesen
vermeintlichen Nebel der Indifferenz stößt um 1980 der energische
Ausdruckswille einer – wenn man so will – nachavantgardistischen Generation.
Sie entdeckt das fragmentierte Ich als konstruktives Energiepotential, entdeckt
die inneren Widersprüche als entfaltenswert und zerstört damit den
intellektuellen Komfort einer Epoche – namentlich der späten Sechziger Jahre –,
deren Geschichtlichkeit damit nun vollends sichtbar wurde.“ (Jens Molzan in „Die
80er Jahre in Düsseldorf“)
Anfang April 1980: eine Single der
Konzeptgruppe Austro Killer Satellit erscheint. Sie enthält das Stück „Die
letzte Zigarettn“, eine Parodie des gleichnamigen Ambros-Hits, in
dem mehrere österreichische Liedermacher (Ludwig Hirsch, Georg Danzer, Wolfgang
Ambros, Konrad Beikirchner) vor ihrer Erschießung durch das revolutionäre
österreichische Volkstribunal ihr Leben Revue passieren lassen. Aus Ambros
„Jetzt sitz ma do/Und rauchn de letzte Zigarettn/Und mir wissn/Glei fohrt der
letzte Bus ...“ wird „Jetzt steh ma do/Und rauchn die letzte
Zigarettn/Und mir wissn/ Glei foit da letzte Schuß“. Wolfgang Ambros klagt
auf Unterlassung.
27. April 1980: Thomann verliest während
eines Konzertes der Gruppe Hallucination Company sein „Anti-Rockkabarett-Manifest“,
Tumulte, Bruch mit Stefan Weber.
„Mit Thomann war damals
einfach nichts mehr anzufangen. Er benahm sich eigenartig unkonstruktiv.“ (Stefan Weber,
Rennbahn Express 3/1987)
Mai 1980: in Absprache stellen Thomann,
Sammy Karstadt, Albert Oehlen, Werner Büttner und Salomé synchron auf 5
Ausstellungen (in Bahnhofshallen in Wien, Hamburg, Wuppertal, München und
Berlin) jeweils ein von einander verschiedenes abstraktes Gemälde mit dem Titel
„Vorwärts in die 80er mit Nostalgie durch Grilltomaten“ aus,
gegenseitige Plagiatsvorwürfe werden erhoben; Höhepunkt: in einem Interview in
der Sendung Aspekte bezichtigt Sammy Karstadt (eigentlich Jürgen
Schneiderbanger) Thomann, Büttner, Oehlen und Salomé des Ideenklaus und nennt
sie „kunstschwuchtelige Rinnstein-Revoluzzer“; in der darauffolgenden
Sendung werden vier Gegendarstellungen gleichen Wortlauts verlesen.
Thomann wird nicht zur Ars Electronica
1980 geladen.
Aktion „Kunst. Sprech. Akt. Porträt. Art of the State is the State of the Art“. Thomann gibt ein TV-Interview zur Funktion und Rolle der Kunst in
der bürgerlichen Gesellschaft, während er sich von einem 17jährigen
Strichjungen anal penetrieren lässt. Medien-Skandal als publik wird, dass es
sich dabei um den heroinsüchtigen Sohn des niederösterreichischen
Oberstaatsanwaltes Dr. Adolph Hofner handelt. Während des Interviews setzt
Thomann das seitdem kursierende Gerücht von einem kanadischen Künstler in die
Welt, der eine Maschine konstruiert haben soll, die ihm den Kopf abhackt und an
dessen Stelle eine Schreibmaschine anschraubt, was dieser auch schließlich
durchgeführt habe.
Erst nach einer Woche lüftet sich das
Geheimnis Hofners: „Diese Aktion war durch und durch gefakt. Es war ein
bizarres Ballett der Irrealitäten - und die Medien waren wie Schäfchen, die mir
aus der Hand fraßen.“
Juli 1980: Aktion „Kunst durch
Anzeigen“: Thomann zeigt anonym mehrere Nachbarn im Wiener vierten Bezirk
an, u.a. wegen Marihuana-Anbaus und Besitz von Kinderpornografie, es kommt zu
mehreren Hausdurchsuchungen durch die Wiener Exekutive, die Thomann von seinem
Fenster aus filmt.
Thomann hat am 17. Juli einen
Kreislaufzusammenbruch und verbringt den Rest des Sommers im Wiener Josefspital.
(„Ich war einfach nur mehr Fleisch.“)
Oktober 1980: zusammen mit dem Berliner
Experimental-Musiker Frieder Butzmann spielt Thomann das Album: Butzmann/Thomann:
„Arbeitslosigkeiten“ ein; es erscheint schließlich 1981 auf dem Zensor-Label.
Vom 13. November bis zum 20. Dezember 1980 findet in der Galerie
Maenz, Köln die Ausstellung Mülheimer Freiheit & Interessante Bilder
aus Deutschland mit Hans Peter Adamski, Ina Barfuss, Peter Bömmels, Werner
Büttner, Walter Dahn, Jiri Georg Dokupil, Georg Herold, Klaus „Grätsche“
Gärtner, Albert Oehlen, Resi Schmelzeimer etc. statt. Auch Thomann nimmt teil.
Während jedoch für viele der jungen Künstlern diese Ausstellung eine erste
Präsentation im öffentlichen Rahmen bedeutet, die gerade deswegen später zum initialen
Hervortreten einer jungen Malerei in Deutschland verklärt werden konnte,
erscheinen Arbeiten Thomanns dort nur unter dem Pseudonym Thomassio Pablo
György; dies aus „Skepsis gegenüber der Möglichkeit der Gruppenbildung, des
historischen Ereignisses, der ‘Generation’, der ‘Zukunft der Malerei’ usw.“
(Gespräch mit Mario Herderstolze in: Bleep Generation). Zu sehen sind
folgende Bilder:
- „Salzwasser in Seenot bitte nicht trinken“
- „Wer erschoß Immanenz?“
- „Formulargranate für den Unterleib der Damenwelt“
- „Selbstmörder bei der Kartoffelaussaat“
- „Humorvolles Negermalheur in der Raiffeisenbank“
- „Kissinger my ass“
- „Poor Homesick American Soldier is
Seeking and Destroying Little Vietnamese Schoolgirls while Humming a Beach Boys
Song“
- „Arithmetischer Sexual-Rhumba für funky Mulitversum“
- „Sagrotan“
- „Die Waltons (dialektisch-materialistisch-anal)“
- „Frau Hümmer, die fensterputzende Monade“
- „Die Geschichtlichkeit baut sich einen Faschingswagen in der
Garage von Joseph Beuys (Porträt)“
- „Stilleben mit sich räkelnder Krise
vor erdbeergefülltem Servierporzellan“
Durch Vermittlung von Hans-Werner Henze
wird Thomanns Experimentalfilm „Zugriff“ in der ZDF-Reihe „Das
kleine Fernsehspiel“ ausgestrahlt. Erzählt wird die Geschichte eines niederösterreichischen
Polizeibeamten (der ehemalige Burgschauspieler Werner Holm), der einen neuen
Bürocomputer zur Verfügung gestellt bekommt, der sich wiederum als verzauberter
Medienkünstler namens Peter Weibel (Stimme: Peter Weibel) zu erkennen gibt und
den Polizeibeamten schließlich dazu bringt, seine gesamte Familie zu ermorden.
Heftige Proteste der katholischen Kirche wegen einer Oralsex-Szene. Für den
Film wird Material der Aktion „Kunst durch Anzeigen“ verwendet.
1981
Januar
1981: Londonaufenthalt; Mitwirkung an einer Single-Produktion der Debord
Guys „Unidentified Flying Objectivity“(Don’t Fuck With Pneuma-Records).
„Pretty much of a strange novelty thing from outer space. Dilettantes
playing Pubrock with cantonese lyrics. The Slits meet Dr. Feelgood right in the
face“ (New Musical Express). Für das Cover wird eine Collage von
Thomann verwendet, auf der zu sehen ist, wie Benny Hills Kopf explodiert.
„Die Single stand in
Verbindung mit dem Ü-Musik-Konzept, das ich gemeinsam mit Reinhold Prosenc entwickelt
hatte; „Überflüssige Musik“; bloß nichts machen was „wichtig“ ist, was irgend
einen „historischen Wert“ besitzt, was irgendwen oder irgendwas irgendwie
„weiter“ bringt. Der totale Stillstand. Das wurde ja später von diesen ganzen
„Neue Deutsche Welle“-Bands aufgegriffen. Wir wollten halt etwas machen, was
wirklich niemand braucht, was für nichts steht und auf jedenfall auch niemand
dazu beeinflußt, sich irgendeine Frisur oder noch schlimmer: irgendeine Haltung
zuzulegen. Hundertprozentige Individualität, bloß nicht für irgendjemand
sprechen, aber mehr so als strategische Verweigerung zu den ganzen Sachen, die
damals gerade aktuell passiert sind. Dieses ganze Herausdifferenzieren von
Sub-Sub-Kulturen, weißt es eh. Kurz gesagt: das genaue Gegenteil von, sagen
wir, Velvet Underground. Deswegen „Pubrock“ und deswegen kantonesische Texte.
Und das stand dann natürlich wiederum in Verbindung mit der „Neuen
Überflüssigkeit“, die ich ja damals mit Martin Kippenberger ausgerufen hatte,
dem sogenannten „Üismus“. Wir haben ja damals in Bielefeld auch das „Üistische
Manifest“ verfaßt.“ (Thomann-Interview von Peter Brautigam in „Komm
Küssen“ #1)
Ende Januar 1981: Offener Brief an die Intendanz der Ars
Electronica:
„Bitte ladet mich heuer mal nicht zur
ars electronica ein! Wenn ich jetzt da schon wieder präsent bin, wirft das
vielleicht ein schlechtes Licht auf meinen Status als ‚unsteter Wanderer durch
die virtuellen Welten (post-) moderner Kunsträume‘ (Albert Neuruppin). Nachher
denken die Leute, ich wäre jetzt vielleicht doch noch irgendwo angekommen. Das
wäre mir aber nicht so recht. Danke für euer Verständnis und viel Erfolg auch
dieses Jahr wieder bei feuchtfröhlichem Diskurs und den guten alten
Darstellungen von Darstellungen von Darstellungen! Euer Schorschi“
Februar 1981: „Diminutivistisches
Manifest“ mit Ainget R. Varencz und Thomas Benesch (veröffentlicht in Mondo
Canibale.), das noch den Gedanken des Üismus verpflichtet ist.
Zentrale Sätze: „Die Wirklichkeit muß mit allen zur Verfügung stehenden
Mitteln verniedlicht werden!“ und „Lest mehr Formelhefte!“
Am 17. Februar 1981 wird die Aktion „Wir
haben euch etwas mitgebracht: Hasch! Hasch! Hasch!“ durchgeführt.
Bei einer Kundgebung der Friedensbewegung
in der Wiener Innenstadt bauen Thomann und Christoph Blonk getarnt als
Mitglieder der christlichen Initiative Pax Mondo einen Stand auf, wo
kostenlos Tee ausgeschenkt wird. Dazu werden mit THC präparierte Kekse
angeboten. Zwei Kundgebungsteilnehmer müssen in eine psychiatrische Klinik
verbracht werden. Anschließende Ermittlungen der Wiener Polizei bleiben ohne
Ergebnis.
März 1981: Thomann ruft mit Ainget R.
Varencz und Thomas Benesch die „Drop Art“ aus, eine Kunstrichtung, deren
Aktionen sich auf die Diskurstechnik des sogenannten „Namedroppings“ beziehen.
Erste Werke werden auf der Ausstellung „Namedrops are falling on my head“
in Kaiserslautern (Galerie Wack, April bis Mai 1981) ausgestellt. „Eine
nackte Frau mit Tropenhelm sitzt in einem Kannibalenkochtopf aus Pappmaché, wie
man ihn aus Witzbildchen kennt. Um sie herum tanzen drei Neger, es sind die
Künstler Georg P. Thomann, Ainget R. Varencz und Thomas Benesch. Zu manischen
Stammestrommel-Stakkati stoßen sie Kriegsrufe aus wie Roda Roda! und Breyten
Breytenbach! ... Quo vadis, Fluxus-Bewegung?“ (Statt-Hefte, Kaiserslautern)
April 1981: Thomann beteiligt sich an
Aufnahmen der Gruppe Rosachrom, die später als Mini-LP mit dem Titel „Außerhalb
des Kreises“ auf dem Schallter-Label veröffentlicht werden.
Mai 1981: Aktion „Geh ich halt nach
drüben!“. Im ORF Club 2 füllt Thomann vor laufender Kamera einen
Einbürgerungsantrag in die Deutsche Demokratische Republik aus; anschließend
versuchte Performance-Selbstentzündung; verhindert von Franz Kreuzer.
8. Juni 1981: Aktion „Schafft ein,
zwei, viele Peter Handke-Bücher!“; organisiert von Thomann und Mariele
Straban findet in der Klagenfurter Innenstadt eine Demonstration „für mehr
Peter Handke-Bücher“ statt. Die Demonstranten skandieren Passagen aus
Handkes Werk und die Parole „Ha-Ha-Ha-Handke-Min!“
Juli 1981: Thomann steigt während der
Aufnahmen zu der 1982 erschienenen LP von Peter Weibel und Hotel Morphila
Orchester aus der Gruppe aus und wirft Weibel vor, das geplante Cover, das
Weibels Schallplattensammlung zeigt, sei „scheiß-kleinbürgerlich-schwanzvergleichmäßig“.
Zu hören ist Thomann auf dem Hotel Morphila Orchester-Beitrag „Ich
tu, was ich will“ auf dem Sampler Wienmusikk (Schallter Records;
1981)
August 1981: Aktion „Reinhardt
Hablitschek“. Thomann gibt sich als der burgenländische Nachwuchs-Lyriker
Reinhardt Hablitschek aus und erreicht, dass der Lyrikband „Die Zärtlichkeit
der Kometen“ mit Finanzmitteln der Kulturförderung durch das Land
Burgenland gedruckt wird. Während der Salzburger Festspiele 1981
verbrennt Thomann die gesamte Auflage auf dem Domplatz unter dem Beifall
einiger instruierter Punks und Kunststudenten; es kommt zu massiven Störungen
der Festspiele und Ausschreitungen. Der als Zuschauer anwesende bayrische
Ministerpräsident Franz Josef Strauß spricht im ORF von einer „bodenlosen
Sauerei“; Thomann loopt diesen Satz und nimmt auf dieser Basis eine Single
auf, die, da als das Werk eines Parodisten ausgegeben, ein lokaler Blödel-Hit
in Bayern wird. Klage der burgenländischen Landesregierung.
September 1981: Schwerer Autounfall in
St. Christophen, Niederösterreich (auf dem Weg nach St. Pölten). Thomann
verliert den kleinen Finger seiner linken Hand, Lungenriss, innere
Quetschungen, schwere Brüche und Frakturen. Thomann muss einen Monat im
Krankenhaus verbringen. Danach Aufenthalt in seiner Wohnung in Wien Neubau.
1982
Februar 1982:
Thomann beginnt wieder zu arbeiten.
Aus der radikalen Erfahrung des Unfalls
entsteht das Ölgemälde „Beliebiges Werk einsetzen“, eine „Auseinandersetzung
mit dem Künstler und seiner Auflösung“ (Kulturzeit, 3/82).
März 1982: Thomanns Bild „Pornomeßlatte“ entsteht.
Am 25. April 1983 präsentiert der „Stern“
die Hitler-Tagebücher - eine Fälschung. Nach Aufklärung des Schwindels
solidarisiert sich Thomann mit dem Fälscher Konrad Kujau; Thomann erklärt dem Kurier,
die Hitler-Tagebuch-Fälschungen seien bedeutender als ein „rasendes,
funkensprühendes Rennauto“ [Anm.: ein Zitat aus dem 1. Futuristischen
Manifest], das seinerseits bedeutender sei als die „Venus von Milo“.
Mai
1982:
Thomann
schickt ein Bewerbungsschreiben als offizieller Schlachtenmaler für den
Falkland-Feldzug an Margaret Thatcher und verschiedene englische Tageszeitungen
(Sun, Daily Mirror): „I desire so terribly to accompany your army to paint
some piles of dead Argentinian soldiers and maybe mingle some of their blood in
my peinture“ und „If you succeed to sink any Argentinian vessel could
you ask your troopers to maybe save some of its steel elements from the wreck
for me. I'm looking forward to add it to a sculpture to herald your greatness
as a Warlord. To me you are a mythological archetype.“ (sic!)
(Das Bewerbungsschreiben findet sich
abgedruckt in der Hamburger Alternativzeitschrift „Abbruch“, Ausgabe 2.)
Juni 1982: Thomanns Text „Maschinist Thomann“ entsteht.
Am 18. Juli 1982, anlässlich des 60.
Lebensjahres von Georg Kreisler, will Thomann (laut Presseaussendung an die
österreichische Tagespresse) „mehrere hundert Tauben in den Parkanlagen des
Schlosses Schönbrunn vergiften“. Thomann betritt mit einem Sack Mehl die
Anlage, es kommt zu Handgreiflichkeiten mit Spaziergängern. Thomann wird von
dem Pensionisten Karl Wallek mit dessen Spazierstockspitze am Auge verletzt. In
einem Artikel im Falter („Ich war eine kunstbolschewistische Hundsfott“)
vergibt Thomann ihm unter Hinweis auf Papst Johannes Paul II. („Das kann ich
auch!“)
Die Salzburger Nachrichten
bezeichnen Thomann als „unreflektierten Berufsjugendlichen“.
August 1982 bekommt Thomann
gesundheitliche Probleme mit der Lunge. Die Lungenwunde (siehe: Autounfall
1981) scheint nicht korrekt ausgeheilt zu sein. Mehrere Krankenhausaufenthalte.
Die Biennale Sao Paolo 1983 bittet
Thomann um Teilnahme. Thomann lehnt aus gesundheitlichen Gründen ab.
Thomann entschließt sich zu einem
einmonatigen Kuraufenthalt in Bad Hall, Oberösterreich.
Thomann schreibt November 1982 die
Science Fiction Kurzgeschichte „Der Bod“.
1983
Januar 1983: Thomanns Kurzgeschichte „Der
Bod“ wird in der deutschen Literaturzeitschrift „Krull“ erstveröffentlicht.
(Anm.: Wolfgang Jeschke veröffentlicht „Der Bod“ auch im Heyne Science
Fiction Jahrbuch 1986.)
Ab Februar 1983 Arbeit am
fotorealistischen „Helmut und Isaac“-Gemäldezyklus.
- „Helmut und Isaac
Newton in der Frauensauna“
- „Helmut und Isaac
Newton tanzen“
- „Helmut und Isaac
Newton und die Mona Lisa“
- „Helmut und Isaac
Newton im Waschsalon“
- „Helmut und Isaac
Newton im Haus Rosi“
- „Helmut und Isaac
Newton essen Fritten“
Der Graffiti-Künstler Harald Nägeli („Der
Sprayer von Zürich“), der sich in Deutschland aufhält, wird per internationalem
Haftbefehl von der Schweizer Exekutive gesucht. Thomann solidarisiert sich mit
dem Verfolgten. Beuys, Böll und Grass beziehen öffentlich Stellung gegen diese
Kunstfeindlichkeit. Am 9. Juni 1983 schießt Thomann im Wiener Volksgarten mit
einem Luftdruckgewehr auf eine Spaydose und ruft dabei „Küchenkästchen“ im
Schweizer Dialekt. Beuys, Böll und Grass distanzieren sich von Thomanns Aktion.
Am 12. Juni 1983 sterben Thomanns Eltern,
beide im 74. Lebensjahr, bei einem Autounfall.
Juli 1983 nimmt Thomann das Experimental-Musik-Stück „Guten Morgen,
Liebling. Sampling-Versuch mit berstendem Glas“ auf.
Im August 1983 entstehen weitere „Helmut
und Isaac Newton“ Bilder:
- „Helmut und Isaac
Newton essen Ketchup“
- „Helmut und Isaac
Newton halten Händchen während eines James Bond-Filmes“
- „Helmut und Isaac
Newton wollen Reagan“
- „Helmut und Isaac
Newton und das Wirtschaftswunder“
Thomann beginnt die Arbeit an seinem
Comicband „Gulaggy“.
Am 22. Oktober 1983 Präsentation der
„Helmut und Isaac Newton“-Reihe in der Wiener Disco U4. Den Musikact bestreitet
die Gruppe „X-Beliebig“ („Musikalisch zwischen Joy Division und Cure, mit
treibender Eigendynamik“, Rennbahn-Express), Thomann singt mit Sänger Rene
Adametz eine Version von „Michelle“.
8. Dezember 1983: Thomann beteiligt sich
an dem von der Österreichischen Hochschülerschaft organisierten „Sternmarsch“
nach Hainburg. Auch Thomann bleibt, wie mehrere hundert andere Personen, in der
Au und hilft dabei die Rodungsarbeiten zu stoppen.
Thomann fasst das Geschehen 1993
(anläßlich der 10-Jahre-Hainburg-Feiern) folgendermaßen zusammen: „Arschkalt,
arschdreckig, aber politisch aufwühlend.“
Thomann lernt in Hainburg die
Soziologiestudentin Dagmar Gilbert kennen.
1984
Ab Frühjahr 1984 starkes Engagement im
grün-alternativen politischen Lager.
Dagmar Gilbert zieht bei Thomann ein.
Probleme mit Gilberts Eltern.
Ende Mai 1984 beendet Thomann die Arbeit
an seinem Politcomic „Gulaggy“, eine bitterböse
„Peanuts“-Stalinismus-Paraphrase. Andropow, der Hund und Tschernenko, der
senile Vogel werden vor allem in der deutschen Fanzine-Szene populäre Figuren.
Thomann erhält den Auftrag zur Gestaltung
eines „Technologie“-Pavillions für die Expo 1986 in Vancouver. Thomann nimmt
den Auftrag an.
Auf Einladung Günther Bergers beginnt
Thomann im Mai 1984 seine Tätigkeit im Bundesverband österreichischer Künstler.
Insbesondere ist die Situation österreichischer Künstler in Bezug auf
Künstlerversicherung ein wesentlicher Diskussionspunkt, daneben die Debatte um
den „erweiterten Kunstbegriff“.
Juni 1984 gestaltet Thomann ein Interview
mit dem Otto-Mühl-Kommunenmitglied Theo Altenberg. Das Porträt wird im ZDF
ausgestrahlt.
Sommer 1984: Während der Hungerkatastrophe in Äthopien beschäftigt
sich Thomann intensiv mit Hirse als künstlerischem Material. Die Ausstellungen
„Äthopien, Du Sau!“ (Wachsfabrik, Köln), „Wir ham’s ja! Relativ
hochpreisige Arbeiten mit Hirse für solvente, häßliche Deutsche“ (Galerie Silvia
Menzei, Berlin) und „Weltspartag. Zur Ästhetik der Verschwendung von
Grundnahrungsmitteln“ (Wien, Neue Kunsthalle). „Ich dachte, es muß mich
doch einer bremsen, es kann doch nicht sein, daß ich das darf!“ (Interview
mit Michael Kalz in Süd-Ost, 1993)
Am 1. November 1984 wird in der Wiener
Galerie „Ingrach“ die Ausstellung „Räume wechseln“ eröffnet. Thomann
präsentiert die Installation „Das könnte Raumschrott sein“, ein
schwarzer Klumpen Metall auf weißem Untergrund.
Bundeskanzler Fred Sinowatz ist am 15.
Dezember 1984 zu Gast in „Wetten, dass ...“. Thomann erstellt
Sinowatz-Plakate („Das lustig-listige Antlitz der Sozialdemokratie, ein Weg in
die Zukunft“) und affichiert sie am 19. Dezember 1984 an der
SPÖ-Parteizentrale.
1985
Winter 1984/1985: Thomann unternimmt mit
Dagmar Gilbert eine länger Italienreise. Während der Reise schreibt er das
politische Ein-Mann-Stück „Molybdän“.
1. März 1985: Thomann stellt Fotografien
seines Winterurlaubs im italienischen Triest (Centro La Capella) aus: „Müde,
aber ehrlich“.
„Ich wollte wirklich auf
eine authentische Weise meinen schönen Urlaub in Italien dokumentieren.
Schlichte Schwarzweißfotografien der Landschaft, von Menschen, von Denkmälern.
Der Aufenthalt in Italien gab mir wieder Kraft, ich konnte mich wieder sammeln.
Die italienische Presse unterstellte mir allerdings genau das Gegenteil. Sie
suchten, was ihnen natürlich nicht vorgeworfen werden kann, Ironie und
Zynismus. Und wurden fündig - wie, ist mir ein Rätsel.“ (Thomann in
Skug #4, 1991)
12. März 1985: Große Thomann-Werkschau im
Kölner Stollwerck: „Besser wie Baselitz“, alle Gemälde sind mit
der Bildvorderseite zur Wand aufgehängt. „Damit das nicht so langweilig ist,
habe ich auf die Bildrückseite Fußballsammelbildchen für Pannini-Alben geklebt.
Ich hatte allein zwölf mal Uli Hoeneß.“
Mai 1985: Berlinaufenthalt mit Dagmar
Gilbert.
Gemeinsam mit Mitgliedern der Berliner
Punk-Formation „Knappsack“ und Dagmar Gilbert gründet Thomann die Gruppe
„Westwärts“ und schreibt den Titel „Ruck Zuck Starfighter“. Die böse
Parodie auf die Kommerzialisierung des Berliner Underground und das
amerikanische SDI-Projekt wird selbst zum Chart-Hit und in den aufkommenden
Hitradios der „neuen Generation“ auf und ab gespielt. Thomann missfällt diese
Entwicklung, er bricht mit den Musikern von „Knappsack“, löst „Westwärts“ auf
und verbrennt die „acht Millionen Mark“ (offensichtlich Monopoly-Geld), die er
angeblich an Tantiemen verdient hat, demonstrativ vor dem Café Kranzler. Die
Aktion, die - in Zeiten von Band Aid - nicht nur in den Boulevardmedien
auf Entrüstung stößt, sondern auch von der TAZ als „kontraproduktiver und
wenig origineller Totalo-Unsinn eines wildgewordenen Egomanen“ bezeichnet
wird, trägt dazu bei, Thomann auch in der internationalen Kunstszene wieder
schlagartig zum Gesprächsthema zu machen.
„Wenn man Thomanns
Arbeiten gerade einmal nicht mag, was vorkommen soll, vielleicht gerade weil
sich davon so wenig behalten, so wenig abspeichern, so wenig historisieren
läßt, dann nennt man seinen Stil gerne »pubertär«. Merkwürdigerweise ist dies
gerade zu den Zeiten jener Revolte der Jugend zum Schimpfwort geworden, die
zugleich eine Kultur der ewigen Pubertät errichten wollten. Es meint wohl zum
einen das Unfertige, das Spiel mit sexuellen und pädagogischen Tabus, einen
Mangel an Balance zwischen Mittel und Ziel, und nicht zuletzt: das
Nicht-Wissen-Wohin. Nur nicht es bleiben lassen. Was immer man von Menschen
sagen mag, die Pubertät ist vielleicht die peinlichste, eine ziemlich leidvolle
hier und da, aber selten die schlechteste Zeit, die sie erleben.“ (Alfred
Preitner in seinem Text „Abschied vom Abschaum“, in: „Präsens werden“,
Hrsg.: Ingo Heller, Verlag Deuticke)
Sommer 1985 wird im Ruhrgebiet erstmals
großräumig Smog-Alarm gegeben. Thomann schreibt die Kurzgeschichte
„Gasflämmchen“, die von der alternativen „Grünpresse“ in Dortmund
veröffentlicht wird.
Bei einem anschließenden Besuch in Berlin
dreht Thomann den Experimentalfilm „Der Lurch des Intendanten“, für den
er mit der Berliner Avantgardegruppe Die Tödliche Doris zusammenarbeitet.
September 1985 spielt Thomann mehrmals
öffentlich mit einer weißen Gummimaske in der Wiener Freudenau Tennis und gibt
vor, der „Achtzehnjährige Boris Becker zu sein, der jüngste Vanillepudding
der Welt“ (er bezieht sich hier auf den Monty-Python Sketch „Giant
tennis playing Blancmanges from the planet Skyron in the Galaxy of Andromeda.“).
Beim dritten Happening (24. September 1985) haben sich schon fünfundzwanzig
Leute angeschlossen, hauptsächlich Monty Python Fans. Die Kulturredaktion des
ORF berichtet über die „Anarchokunstkomödie“. Thomann kontert in einem
Interview für „Journal Panorama“ (Ö1): „Zum Spaß mach ich das sicher nicht.“
„Molybdän“ wird am 12. Oktober 1985 im
Rahmen des Steirischen Herbstes uraufgeführt. Das Solo-Theaterstück wird nicht
live aufgeführt, sondern per Video eingespielt. Blixa Bardgeld spielt „Franz
Deutecke“. Der Synthesizer-Soundtrack stammt von Gary Danner („Station Rose“).
„Kollektives Fernsehen
als provokatives Theatererlebnis“ (Kleine Zeitung)
November 1985: „Molybdän. Ein
Theaterstück für Eins“ erscheint bei Edition Thalhammer, Wien.
Dezember 1985: Thomann beteiligt sich an der Ausstellung „Stuck
inside the Eighties“ in der Brüsseler Galerie Hairdo, an der auch u.a.
Oregon John McDowell, Jacqueline Scholze, Jorge XIV, Asger Jorn, Nathalie
Préscut, die obskure dänische Künstlergruppe MakroMakroMakroMakroMakro,
der Popmusiker Alan Jenkins (The Deep Freece Mice etc.), Jaros Tuareg,
Para Ernest Park, Alivia Mammuth, Jack Unternull und Peter Bömmels
teilnehmen. Thomanns Arbeiten weisen dabei eine stark realistische Tendenz auf,
zu sehen sind v.a. Arbeiten aus den Jahren 1977-1985:
- „Viele Menschen unterschätzen das Gebirge, andere bleiben gleich
zuhaus“
- „Die Phantasie verleiht der Mündigkeit Flügel und dem Verlangen
Räder“
- „Theorie der Ästhetik, S. 266“
- „Sie werden zu uns kommen, und ihre Technologie wird
unvorstellbar sein“
- „Ob es wohl jemals ein Mc Donald’s Drive-Through-Restaurant
zwischen Erde und Mars geben wird?“
- „Nur ein alter Mann mehr auf dieser Welt“
- „Einmal wird die Erde den meisten gehören“
- „Geschichtsklitterung muß ich mir nicht vorwerfen lassen, Trägheit
schon eher“
- „Jerry spürt ihre Anwesenheit, er kann sie förmlich riechen“
- „Bei mir kommt der Strom aus der Steckdose, woher denn sonst?“
- „Onkel Dagoberts Geiz (stilisiert)“
- „Etwas ähnliches habe ich selbst schon einmal erlebt“
- „Etwas vergleichbares ist mir bisher nie untergekommen“
- „Etwas an seiner körperlichen Deformiertheit ist zutiefst
menschlich“
- „Figur im Raum Bielefeld“
- „Kennen Sie Trier?“
- „Schalke“
- „Tangens gibt auf“
- „Verzweifelter Italiener bei Nacht“
- „Sujetmalerei, Sujetmalerei“
- „Pleinair-Faschismus für Gestalttherapiesüchtige“
- „Warum man sich den Unterschied zwischen Stalaktiten und
Stalagmiten so gut merken kann“
- „Sind wir ganz allein im Universum?“
- „Wieviele Welten wie die unsere mag es wohl noch geben?
Billiarden?“
- „Die Schnauze voll, aber sonst ganz nett“
- „Hundsfott, elendiger“
- „Die Freiheit ist unvorstellbar gräßlich IV“
- „Die österreichischen Tugenden beim Herrenabend“
- „Wir leben im Zeitalter einer unendlichen Beschleunigung, eines
„rasenden Stillstandes“ (Paul Virilio). Z.B. die „Häschenwitze“, damals der
letzte Schrei, heute schal, alt und nutzlos geworden“
1986
Februar 1986: Aktion „Unglücklich-Verliebtsein-In-Julian-Schnabel“,
Thomann schreibt dem (zuvor in das Projekt eingeweihten) New Yorker Maler
Julian Schnabel mehrere Liebesbriefe und ruft ihn ständig an. Der Maler Julian
Schnabel wendet sich, als Teil der Aktion, an die New Yorker Polizei um
Personenschutz zu verlangen. Die Polizeiunterlagen werden veröffentlicht.
„Die auch heute immer
wieder geführten unsinnigen Diskussionen über die Autonomie der Kunst fußen
zumeist auf einem epistemologischen Irrtum. Was einzig Geltung hat, ist
Systemautonomie, d. h. Autonomie in einer dem System förderlichen Weise. Das
bedeutet zugleich, daß das Kunstsystem auch über Leistungssektoren in bezug auf
andere Funktionssysteme verfügt. Wie oben schon angedeutet, bezieht sich dieser
Umstand nicht lediglich auf den Zusammenhang zum Wirtschaftssystem, sondern in
vielfältiger Weise auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, die unter
Schlagworten wie Entwirklichung, Semiotisierung, Mediatisierung der Welt
subsumiert werden.“ (Thomann in „Kunstforum International“, 1988)
1. März - 25. März 1986: „Nature Axis: No
Berlin No“ lautet der Titel einer Ausstellung, die Thomann auf Einladung von
Yoko Ono in leerstehenden Lagerhäusern in den Docks von Barcelona lanciert.
Thomann arbeitet installativ und bindet neue Medien in seine Arbeit ein. Seine
Dreikanal-Installation „El Fi[e]st-ing“ thematisiert in ebenso eindrucksvollen
wie provokanten Slow-Motion-Aufnahmen die Homosexualität in der Tierwelt. Seine
Arbeit wird international rezipiert und bringt ihm eine Veröffentlichung im
sich entwickelnden Cyber-Art-Zine „Mondo 2000“ und eine detaillierte Diskussion
seines Werks im „Whole Earth Review“ ein.
Thomann beginnt mit der Arbeit an seinem
Buch „Folgen, Abschätzung“.
1986: intensive Zusammenarbeit mit Herbert Achternbusch („Heilt Hitler“, 1986 und „Punch Drunk“, 1987). Der geplante Film „Schlagstock“ (Thomann soll die Rolle eines Polizisten, einer Klofrau, Gottes und einer schwangere Kellnerin übernehmen) wird nicht realisiert.
Mai 1986: Thomann stört eine
Publizistik-Lehrveranstaltung an der Johannes Gutenberg Universität, Mainz.
Jürgen Doetz, Geschäftsführer des 1985 eröffneten deutschen Privatkanals SAT1
spricht in seiner Vorlesung über „Konzept und aktuelle Situation des privaten
Fernsehprogramms SAT1“. Thomann wirft Doetz vor an der „Mediokratischen
Gesellschaft von Morgen“ zu arbeiten. Ein „Spiegel“-Interview mit Doetz und
Thomann verhärtet die Standpunkte.
„Mittlerweile muss ich
feststellen, dass meine damals aufgestellten, rein konfrontativen Thesen fast
zu hundert Prozent eingetreten sind.“ (Thomann
in „Jungle World“, August 1999)
Thomann besucht im Juli für zwei Wochen
die Expo in Vancouver („World in Motion, World in Touch“, Ausstellungszeit ist
vom 2. Mai bis 13. Oktober 1986).
„Thomann war mit der
Ausführung des Expo-Pavillions nicht zufrieden. Er wollte kritisieren und
attackieren, er wollte, pathetisch gesprochen, den Finger auf die Wunde der
westlichen Welt legen. Aber das brauchte er gar nicht zu tun. Challenger war
explodiert und Tschernobyl. Jeder, der den Pavillion besuchte, war entsetzt,
aber weniger durch Thomanns Konzeption als eher durch ein latentes
gesellschaftliches Unbehagen.“ (Dirk Meiner in „Jungle World“, Juni
1998)
Nick Cave tritt am 9. Oktober 1986 im
Linzer Posthof zum ersten Mal in Österreich auf. Thomann besucht das Konzert
auf Anraten Peter Heimlers. Thomann ist begeistert und nimmt mit Cave eine
Fotoreihe („Crazy Aussie Ass“) auf dem Gelände der VOEST Alpine Linz
auf.
3. November 1986: Thomann startet die
„Sandoz-Aktion“ am Rheinufer (Sandoz Unfall 1. November). Der Sprayer Harald
Nägeli und die Biochemikerin Laurie Jenkins ziehen mit Thomann (unter
schwierigen Witterungsbedingungen) am östlichen Rheinufer nach Norden und
nehmen Wasserproben. Jenkins untersucht die Proben - soweit möglich - sofort.
Die Ergebnisse der dreiwöchigen „Ökowanderung“ (Der Stern) werden am 1.
Dezember an die Humbold-Universität Berlin, an die Bundesregierung der BRD, den
Vorstand der Sandoz-Werke („Höllenmäuler!“, Zit.: Anrede des Briefes)
und die Vereinten Nationen gesandt.
6. Dezember 1986: Performance „Revolution durch Peinlichkeit.
Ich schäme mich unsterblich“; Thomann bestellt Reporter mehrerer
Tageszeitungen in die Wiener Thaliastraße zu einer Presse-Konferenz; diese
warten dort auf ihn. Nach ca. 20 Minuten kommt Thomann, sich die Hose
zuknöpfend, aus dortiger Video-Peepshow; als er die Reporter erblickt, ergreift
er die Flucht; im Laufen bewirft er die ihn verfolgenden Reportern mit
Baudrillards „Kool Killer“ in der Merve-Ausgabe. Die selbe
Perfomance wird ein Jahr später unter dem geänderten Titel „Revolution durch
Unangenehm-Auffallen. Ich schäme mich in die Annalen der Kunstgeschichte“
wiederholt
1987
Am 20. April 1987 startet Thomann die
Aktion „Lange genug“, ein provokanter Bezug auf die Waldheim-Präsidentschaft.
Kleine braune Playmobil-Plastikpferde und kopierte Flugblätter („Tun Sie
ihre Pflicht“) werden in der Mariahilferstraße an Passanten verteilt.
1. Mai 1987: Während
der traditionellen, jährlich stattfindenden Fluxus-Nostalgie-Maifeiern in der
Fluxuskirche Wiesbaden-Erbenheim (Wandersmannstraße) führt Thomann zum Motto "Maciuas - where are
thou?" die Flötenaktion "Stockhausen
revisited" für zwölf nackte Jünglinge, einen Chorleiter und zwölf
Fasnachtströten auf. Die Aufführung wollte nicht, wie einige Kritiker
schreiben, die pädophilen Neigungen des KomponiSten Stockhausen aufdecken,
sondern dessen spiritualistische Verbissenheit mit dem Geist von Fluxus
konterkarieren.
Sommer 1987: Die „Ars Electronica 1987“
steht unter dem thematischen Schwerpunkt „Der freie Klang“ in seinen
Unterschiedlichsten Spielarten. In Kooperation mit dem M.I.T. (insbesondere
Nicholas Negroponte) entsteht anlässlich der Ars die interaktive
Klangausstellung „U’LL C// (bi]“ mit Terminals in Galerien und Museen von
Boston, New York, Helsinki, Karlsruhe, Pamplona, Linz und Osaka. Die Besucher
können von allen Standorten aus die Klanginstallation permutieren und ihren
Eingriff unmittelbar an allen anderen Terminals sichtbar machen. Eine
Pionierleistung, die Thomann neben sehr unterschiedlichen Kommentaren in den
europäischen Feuilletons auch den «Prix de la mediathèque éternelle de la
France» einbringt.
„NZZ“, Zürich: „Thomanns Werk spottet
jedem Beschrieb. Dass ausgerechnet der antikapitalistische Provocateur für eine
solche banale und nur als eindimensional fortschrittsgläubige Huldigung an die
globalisierte Telekommunikation verständliche Installation verantwortlich
zeichnet, wirft ein schlechtes Licht auch auf die eheren und als bedeutend
komplexer interpretierten Arbeiten des Künstlers.“
„Wiener“, Wien: „Ars electronica at
its best: Wenn Thomann die halbe Welt mit seiner Installation ‚U’LL C// (bi]’
vernetzt, haben in Linz nicht nur Ars Electronica-Chef Hannes Leopoldseder und
Bundeskanzler Franz Vranitzky eine theoretische und praktische Freude daran,
sondern stehen alle Besucher des Linzer Kunstevents Schlange vor dem Highlight
der diesjährigen Ars. Hier können sie auch einen Blick in die Zukunft der Kunst
werfen. Die Medien als Material der Kunst, das kann bei Thomann mehr
hervorbringen als lustige Animationsfilmchen oder schräge Klangexperimente. […]
Thomann macht Spaß und Sinn zugleich.“
September 1987: Thomann erarbeitet die
Aquarell-Bildserie: „Ulknudeln-Gedenk-Bilder“ mit Porträts von Ingrid
Steeger, Helga Feddersen und Beatrice Richter.
Oktober 1987: Gemeinsam mit Dagmar
Gilbert Engagement für den Universitätsstreik in Wien, Thomann schreibt eine
Analyse für „Die Zeit“.
Intensiver Briefkontakt mit Christoph
Ransmayer.
1988
Januar 1988: Thomanns Werk „Beliebiges
vorheriges Werk einsetzen“ wird (auf Thomanns Wunsch) in das
katastrophensichere Archiv des Metropolitan Museum in New York aufgenommen.
Im Februar 1988 erhält Thomann eine
Gastrolle in der ORF-Produktion „DORF“ (mit Lukas Resetarits etc.), dabei
parodiert er seine versuchte Selbstanzündung im „Club 2“ 1981. Die Rolle
Franz Kreuzers wird von Erwin Steinhauer gespielt.
5. März 1988: Thomann muss ins Allgemeine
Krankenhaus Wien eingeliefert werden, akute Nierenbeckenentzündung.
18. März 1988: Entlassung aus dem AKH
Wien.
26. März 1988: Thomann wird wieder ins
AKH Wien eingeliefert. Verdacht auf Nierengeschwulst, dieser erhärtet sich
nicht. Thomann wird auf strenge Diät gesetzt und muss sich schonen.
Briefkontakt mit Christoph Ransmayer.
Thomann gestaltet die Fotoarbeit „Solche
Bilder in 10 Sekunden“ und beendet die Arbeit an „Folgen, Abschätzung“.
Anfang August 1988 wird „Folgen,
Abschätzung“ im Verlag Ueberreuter veröffentlicht.
„Thomann erweist sich
[in „Folgen, Abschätzung“] als Kriminologe des Kulturdiskurses und beschreibt
mit Leichtigkeit wie Genauigkeit die verschiedenen Debatten und Mikrodebatten
medientheoretischer Art. Ein wunderbares Buch. Aber was auf keinen Fall fehlen
darf, ist auch hier die Selbststilisierung des Autors. Das Vorwort liefert er
als autobiographischen Einstieg ab. Da flucht er auf die Institutionen und den
offiziellen Bildungsweg. Er habe nur schlechte Lehrer gehabt, lediglich die
Volksschullehrerin habe ihm das Schwarzsehen beigebracht. Und geschrieben hat
er das‚ auf einen Zettel im letzten Waggon der S3, kurz nach Floridsdorf, am 6.
Juni 1988‘.“ (aus Spektrum, Die Presse)
30. August 1988: Thomann wird zu einer
öffentlichen Diskussion zum Thema „Medienwahn“ ins Audimax der TU Wien
eingeladen. Er prägt das Stichwort der „kollektiven journalistischen
Besinnungslosigkeit“ und bezieht sich auf das Geiseldrama in Gladbeck. Er
beschuldigt die Medienverantwortlichen für deren „Vergehen“ und wirft aktives
Eingreifen in das Geschehen vor - die Medien seien Schuld am Tod der Geiseln.
Danach greift er zu einem Megafon und wiederholt stoisch den Satz: „Ich will jetzt
durch die Medien sprechen!“ (ein Zitat Dieter Degowskis, einer der Geiselnehmer
von Gladbeck.)
26. September 1988 kommt es bei der
Wien-Premiere von Scorseses „Letzte Versuchung Christi“ zur Attacke eines
strenggläubigen Wiener Katholiken auf Thomann. Thomanns Zitat „Jaja ... und
der Axel Corti schaut nur blöd zu“ wird von der EAV als Sample verwendet.
Am 17. November 1988 wird Thomann der
Titel „Professor h. c.“ durch die „Akademie der Bildenden Künste“ verliehen, wo
er einen Lehrauftrag für Gegenwartskunst erhält. Begründet wird diese
Verleihung durch Thomanns „schier unendliche Variabilität künstlerischen
Ausdrucks und sein Verständnis für die künstlerischen und kulturpolitischen
Notwendigkeiten der Gegenwart“. Diese Aktion wird von Kronen-Zeitung und
Furche schwer kritisiert.
Ausschnitte aus den Pressereaktionen:
„Es ist nicht das
Problem des Georg Thomann, daß man ihm als »Provokation« auslegen muß, was
nichts anderes ist, als die moralischen Ansprüche der Sinnsysteme beim Wort zu
nehmen, das Sinnsystem der Religion wie das des Staates, das Sinnsystem des
Neuen Deutschen Films wie das Sinnsystem der 68er-Gedanken. Ich habe nie
jemanden getroffen, der so weit davon entfernt ist, zynisch zu sein wie Georg
Thomann. Schade, daß er jetzt „der Herr Professor“ ist, aber auch eine
Herausforderung.“ (Diedrich Diederichsen)
„Thomanns Revolten erinnern noch stets
an einen Don Quichotte, der das „Bildungsbürgertum“, die katholischen Mythen
und Moralismen, das Ordnungssystem der Familien angreift wie jene Windmühlen,
die der Ritter von der traurigen Gestalt für Riesen hielt. Aber täuschte uns
Quichotte nicht vielleicht, und er wußte, daß er Windmühlen angreift, was ihm
die Zeitgenossen nie verziehen hätten denn Windmühlen bedeuteten Fortschritt,
Ordnung, Wohlstand und übrigens eine erste Form organisierter Ausbeutung, und
er behauptete nur, sie mit Riesen zu verwechseln, damit man ihm das Material
seiner Inszenierung ließ? Thomanns Revolte zerbricht ebenfalls fortwährend, so
soll es in der Kunst sein, in einen sehr allgemeinen und in einen sehr privaten
Teil. Er ist als Performance-Inszenierer, Regisseur und Maler stets beides: ein
anmaßender Clown und ein blutender Märtyrer.“ (G. Seesslen, Die Zeit)
„Er will nie auf etwas
Großes und Beschließendes hinaus, sondern bildet viel eher einen konstanten
Fluß der Eindrücke und Phantasien mit den Mitteln ab, die er zur Verfügung hat.
Thomanns Kunst ist keine Reise und kein Traum. Sie ist ein Karussell. Eines von
diesen Dingern, in denen man sich in einer Drehung noch einmal um die eigene
Achse dreht. Je schneller es sich dreht, desto mehr verlieren die Menschen das
Gefühl dafür, wer oder was sie eigentlich sind. Vom Wo ist längst schon nicht
mehr die Rede, obwohl es gerade dafür (natürlich vollkommen gelogene) Zeichen zu
geben scheint.“ (Franz Merger, Kurier)
Dezember 1988: Thomann entwirft und
fertigt die Installation „Informationsfluß“.
1989
Im Winter- und Sommersemester intensive
Lehrtätigkeit an seiner Klasse (Projekt „Love Simmel“) mit den Studenten. Es
entwickelt sich eine Freundschaft mit seinem Assistenten Frank Krenz. Im
Februar besucht Thomann mit fünf Studenten in Form einer Exkursion die
Opernballdemo.
Mai 1989: Einladung zu mehreren
Gastvorträgen an die philosophische Fakultät der Universität Marburg („Kranke
Kunst und Kunst als Krankheit“).
Thomann findet Kontakt zur
Performance-Künstlerin Elffriede und beteiligt sich an ihrer Aktion „Kranebitten“.
„Kranebitten“ ist eine Thematisierung der Historisierung und
Enthistorisierung von Kunst.
Elffriede beschreibt den Impetus der
Veranstaltung (und die nachfolgenden Legendenkonstruktionen um „Kranebitten“
(in einem „Flex Digest“ Interview, 1995): „Ich hatte Kontakt mit Thomann
wegen einer Körperbemalungsgeschichte, da hat er mir im Rahmen einer
Performance Hieroglyphen für ein multimediales Karma unter die Fingernägel
gepinselt. Diese sind dann so extrem ausgewachsen, daß ich sie zwei Meter
hinter mir herschleifen mußte, was natürlich eine abgekartete Sache war, weil
er das schon als multikomplexes Provinz-Spektakel im vorhinein geplant hatte
und sowohl mich als auch die im Straßenpflaster entstehenden Furchen filmte und
das Rohmaterial anschließend digitalisierte. Seitdem bin ich gezeichnet für
mein Leben und außerdem, wahrscheinlich als Spätfolge, rausgeworfen worden aus
Deutschland, wie ja allgemein bekannt ist.“
1. August 1989: Ausstellungseröffnung
zahlreicher Videoarbeiten („Ich und die 199 schwerwiegendsten Versäumnisse
des Yves Klein“) im Baseler „Hof“.
„Daß das Fernsehen als
Abfallprodukt der V2-Raketenversuche in Peenemünde entstanden war, brachte
keine Credits ein, ebensowenig die Tatsache, daß das Fernsehen als eine Art
visuelle Waschmaschine des Wirtschaftswunders - dem Alltagsgebrauch entstammte.
Der an die Kunst gestellte Exklusivitätsanspruch und der Glaube an einen
progressiven Kunstbegriff, der stets eine formale Erneuerung mit sich tragen
sollte, verhinderten mangels historischer Vorläufer lange Zeit die Anerkennung
des Videos als Kunstform. Video hat sich seinen Weg ins Museum geboxt. Und ich
habe es von hinten getreten.“ (Thomann in einem Interview mit Dieter Bögeli
in der „Basler Zeitung“, 2. August 1989)
Oktober/November 1989: Thomann geht
anlässlich der Maueröffnung wieder für einige Monate nach Berlin. Er verbindet
dies mit einer Gastprofessur an der Humboldt Universität. Er tritt für den
Erhalt eines Teils der Berliner Mauer (vor dem Brandenburger Tor) als
politisches Mahnmal ein, das „solange bestehen muß, bis ein Chinese
denselben Wohlstand hat wie ein Kanadier, ein Ghanese die gleiche medizinische
Versorgung hat wie ein Norweger und die Menschenrechte in allen Staaten der
Welt eingehalten werden.“ Wütend weist Thomann seine Nominierung zurück,
einen Teil der East-West-Gallery am Friedrichshain zu gestalten und
kehrt Berlin „unwiderruflich den Rücken“ (Thomann in „Zitty“).
An Weihnachten 1989 erhält Thomann einen
Brief von seiner ehemaligen Pariser Geliebten Blandine Jeanson, mit der er seit
1968 keinen Kontakt mehr gepflegt hat. Er erfährt von der Existenz eines
gemeinsamen Sohnes. Clément-Edouard Jeanson wurde im Juni 1969 geboren. Nach
einem abgebrochenen Jura-Studium wurde er stellvertrender Vorsitzender der
Jugendorganisation des rechtsextremen Front National.
1990
Frühjahr 1990: Aufgrund der 1983
veröffentlichten Kurzgeschichte „Der Bod“ [Anm.: laut Ars-Jury eine der ersten
deutschen Kurzgeschichten des Cyberpunk-Genres] wird Thomann zusammen mit
William Gibson, Terence McKenna und Bruce Sterling zur Ars Electronica 1990
(„Digitale Träume - Virtuelle Welten“) nach Linz geladen. Thomann lehnt ab,
weil er besseres zu tun habe.
Gemeinsam mit seinem Assistenten Frank
Krenz beginnt er mit der wissenschaftlichen Sammlung künstlerfeindlicher Witze.
Juni 1990: Thomann verkleidet sich als
„Trekkie“ und besucht die Ars Electronica. Er gibt vor, „einmal Marvin
Minsky kräftig treten zu wollen, hauptsächlich aus sachlichen Gründen“. Das
Vorhaben misslingt. Thomann trinkt jedoch ein Bier mit William Gibson.
August 1990: Der Bildband „Helmut und
Isaac Newton ziehen Bilanz“ erscheint im Elak Verlag, Wien.
September 1990: Anlässlich der Eröffnung
des ersten österreichischen „Media-Markt“ in Salzburg verklagt Thomann die
Ladenkette, da diese ihren Namen von einem (nicht existenten) Thomann-Bild aus
dem Jahre 1975 habe. Als Beweisstück reicht Thomann eine alte Hand-Farbpalette
ein (Siehe: „Muß das sein, Professor Thomann?“, Kurier, 12. September
1990).
November 1990: Thomanns und Krenz’
Künstlerwitze-Recherche erscheint unter dem Titel „Arty-Farty. Kartographie
des künstlerfeindlichen Witzes“ bei styria in Graz.
Frank Krenz bewirbt sich als Lagrist beim
Media-Markt. Er versucht, mehrere tausend Media-Markt-Kataloge auf Kosten des
Unternehmens an Privat-Adressen in Kuba zu schicken; aufgrund einer formalen
Beschwerde in der Postabteilung wird die Aktion entdeckt; Krenz wird von
„Media-Markt“ verklagt.
Thomann erstellt die Aquarellzeichnung „Selbstporträt als Foto
in der Bildzeitung unter dem ‚Kunstlump‘ steht, anläßlich meiner
Schleyer-Performance auf der documenta VI“ und fertigt die Arbeit „Weibel’s
butterflyfish“ nachdem er in einem Buch über Zierfische die Gattung ‚Chaetodon weibeli’ entdeckt.
Persönliche Differenzen mit Thomanns Langzeitfreundin Dagmar
Gilbert.
Thomann beginnt im Dezember 1990 privaten
Querflöte-Unterricht zu nehmen.
1991
Nach Beginn des US-amerikanischen
Feldzuges im Persischen Golf nimmt Thomann an mehreren
Anti-Kriegs-Demonstrationen teil. Dort trifft er die deutsche Ärztin Petra
Meier, mit der er ein halbjähriges Verhältnis unterhält. Meier ist Mitglied von
„Ärzte ohne Grenzen“ und engagiert sich in Usbekistan gegen die zunehmende
Verlandung des Aralsees durch die sowjetische Kraftwerkspolitik.
Thomann bekommt vom Ministerium für
Unterricht und Kunst für ein Projekt in Graz („Raum Raute“) 250.000
Schilling Förderung.
Thomann fährt mit Studenten seiner
Meisterklasse am 4. Februar 1991 nach Znaim (Tschechoslowakei) und ruft die
Aktion „GZ 326.32/II/3a“ aus (Anm.: die Aktenkennzahl des
Förderungsansuchens für „Raum Raute“).
Thomann und seine Studenten versuchen
einen Nachmittag lang, die Stadt Znaim leerzukaufen. Sie besuchen verschiedene
Geschäfte und bieten hohe Geldsummen für alle Waren. Es kommt zum Eklat, die „GZ
326.32/II/3a“-Gruppe wird wegen illegalen Geldschmuggels ausgewiesen. Die
Aktion wird vor allem in der „Volksstimme“ schwer angegriffen. Thomann muss das
Geld aus eigener Tasche an das BMUK zurückzahlen.
Im Juni 1991 begleitet er Petra Meier
nach Tashkent, wo er den Reisefilm „Eine Aral-Andeutung“ dreht, den er
aber nicht fertigstellt. (Ausschnitte des Filmmaterials sind in der
SAT.1-Sendung „10 vor 10“ mit Alexander Kluge vom 21. September 1998 zu sehen.)
August 1991: Mitwirkung an der
Trashfilm-Produktion „Kampfkommando Virus. Die ohne Hoffnung sind“ („Der
härteste Dschungelkriegsfilm Österreichs“) von Drehli Robnik und Daniel Rein.
Thomann spielt die Rolle des „3. Südostlers“.
September 1991: Thomann erstellt die
Konzeptarbeit „Belangsendung“.
Am 15. Oktober 1991 Premiere von
„Kampfkommando Virus“ im Wiener Filmcasino.
November 1991 erscheint die „Censoring
Media“-Ausgabe der US-Zeitschrift „Felix“, in der einige Essays von Thomann
veröffentlicht werden, unter anderem „Potlatch - Now and Then“.
Dezember 1991 verkauft Thomann das
leerstehende Elternhaus in Vorarlberg an Daniel Rein.
1992
Thomann besucht Christoph Ransmayer im
Februar 1992 in Irland.
Thomanns Assistent Krenz übernimmt für
das Sommersemester 1992 Thomanns Lehrauftrag.
Thomann geht auf eine ausgedehnte
Frankreich-Reise.
Thomann besucht einige Vorlesungen Gilles
Deleuzes über Vogelgesang an der Reformuniversität Paris-Vincennes (St. Denis).
Hier lernt Thomann den französischen Kulturflaneur Jean-Luc Dadache
kennen, der 1943 im südfranzösischen Örtchen Rennes-le-Chateau zwischen
Toulouse und der Küstenstadt Narbonne geboren wurde.
Als Deutschlehrer, der zur
Existenzsicherung blockseminargleich südfranzösische Küstenstädtchen bereist,
machte Dadache sich darüber hinaus einen Namen als „radikale Version Pierre
Bourdieus“ (Thomann über Dadache), der nach seinen Erfahrungen vom Mai 1968 in
Paris schon früh die Arbeiten der Kommunikationsguerilla inhaltlich
unterfütterte. (Anm.: 2000 in Hannover, um direkt vor Ort an den
Anti-Expo-Bemühungen teilzunehmen.)
Dadache lädt Thomann in ein Pariser Café
ein, in dem er pornografische Gedichte und aus seinem immer wieder
umgeschriebenen Hauptwerk „Logik des Milieus“ liest. (Anm.: „Logik
des Milieus“ wartet immer noch auf einen Verleger.) Besonders die
Dadache-Erzählungen über seine Suche nach dem Heiligen Gral, die Dynastie der
Merowinger und den Geheimorden Prieuré de Sion haben es Thomann angetan.
Deshalb begleitet er ihn nach Südfrankreich.
Dadache stellt sich die künstlerische
Lebensaufgabe, die Suche nach dem Gral immer wieder in Form einer
Landart-Performance in und um seinen Heimatort in Südfrankreich zu simulieren.
Hierzu begibt er sich in die ländliche Umgebung, die von Bergrücken durchzogen
ist, um zum Beispiel kunstvoll auszugraben oder Steine zu spalten. So entstehen
spontan Landart-Installationen. In Rennes und Toulouse folgen regelmäßig
Ausstellungen der Fundstücke und bearbeiteten Findlinge, untermalt durch
Vorträge und ein Fotoarsenal. Tatsächlich verlieren sich in der Gegend um
Rennes-le-Chateau, Carcassonne und der Burg bei Montségur die historischen
Spuren des Heiligen Grals.
Im 1993 erstmals erscheinenden
Gralsuche-Katalog Dadaches, der auf Anforderung in Handarbeit hergestellt wird,
interpretiert Thomann die Kunst Jean-Luc Dadaches: „In seinen
notwendigerweise anstrengenden Streifzügen durch die Berglandschaft
Südfrankreichs manifestiert Dadache seine permanente Ablehnung der Matrix und
gleichzeitig eine eigenwillige Kunstkritik. Von ihm wird man keine Demutsgesten
vor der Oberfläche sehen, keine optionistischen Kunstwerke, die sich an
Bildungsetats orientieren. Dadache interveniert. Seine Suche gleicht einem
Utopiebildungsprozeß, einem persönlichen Scherflein zu einer neuen (linken)
Utopie nach dem Fall des real existierenden Sozialismus. Laut Dadache ist es
dazu nötig, sich selbst zu fragmentieren, um durch die Poren der
allgegenwärtigen Oberfläche zu schlüpfen und sich im Untergrund wieder
zusammenzubrodeln.“ (Social Text #3, 1993)
Ende April 1992 macht Thomann Dagmar
Gilbert einen Heiratsantrag. Sie heiraten am 10. Oktober 1993 auf dem
Standesamt in Wien Mariahilf.
Im September 1992 fertigt Thomann in
Handarbeit kleine bunte Aufkleber und bringt diese in zahlreichen Wiener
Buchläden auf Exemplaren des neuerschienenen Buchs „25 Jahre Ö3 – Zeitgeist für
beide Ohren“ von Alfred Komarek an. Er verändert den Slogan des ORF-Werbebuchs
so in „58 Jahre Kruckenkreuz“. Ein geplanter Auftritt Thomanns in der
Ö3-Sendung „Musicbox“ wird daraufhin abgesagt.
Langwieriger Prozess mit Daniel Rein, der
sich weigert, den vollen Kaufpreis für die „Thomann-Bruchbude“ [Anm.: siehe
Dezember 1991] zu bezahlen.
1993
Im Januar 1993 wird Thomann von Prako
Pronev nach St. Petersburg eingeladen, wo die beiden in der Galerie „D“ eine
Fernsehstudio-Installation einrichten.
„Pronev war glühender
Gagarin-Fan, seine kindliche Begeisterung steckte mich an, und wir haben zwei
Monate lang jeden Tag bewiesen, dass Juri Gagarin am 6. Januar 1965 den Mond
betrat. Wir hatten in einem funktionierenden Fernsehstudio eine Mondlandschaft
aufgebaut, und zwar war das Schutt von Lenin-Statuen. Hie und da sah man so
einen Lenin-Kopf aus dem Mondboden hervorkucken. Snessar schaffte es sogar,
eine illegale Live-Verbindung zur MIR-Station herzustellen und ich stellte den
Kosmonauten dort die Frage nach dem Verbleib Franz Viehböcks [Anm.: erster
Österreicher im Weltall]. Für das ganze Ding musste Pronev 3.000 Dollar
Strafe zahlen. Lauter verrückte Leute.“
Ab März 1993 steht Thomann in Brief- und Telefonkontakt mit Peter von Trapp
(KLF/K-Foundation).
Von Prako Pronev und Viktor Snessar [„Laboratorie Chisni“] bekommt Thomann eine Lomo-Fotokamera geschenkt, die dieser in Wien an Wolfgang Stranzinger weitergibt. Stranzinger organisiert daraufhin einen großen Lomo-Import von St. Petersburg nach Wien.
Thomann äußert sich im Jahr 1996 in einem
Wiener-Interview negativ über die Aktivitäten der österreichischen
„Lomographen“ und tituliert sie als „Trendwichser mit Nachtwerk-Geschmack“.
[Anm.: Nachtwerk, Wiener Großraumdisco]
22. Mai 1993: Thomann trifft in Berlin
Ernst Kloppenwerde anlässlich der Premiere von dessen „Faust“-Inszenierung.
Thomann lässt kein gutes Haar an der Aufführung, ein Treffen mit der
Schauspielerin Kitty Schrödinger („Gretchen“) ist allerdings konstruktiv
[bzgl.: Kitty Schrödinger s.a. Frank Beringers „Clara“, „De Groon“, sowie
„Körperwelt“ Steirischer Herbst 1992].
Thomann und Schrödinger beschließen die
Ausarbeitung eines Drehbuchs für eine ORF-Produktion.
August 1993: Thomann beginnt mit
Schrödinger die Arbeit an „Der heilige Koloman“.
November 1993: Der Titel „Der heilige
Koloman“ wird in „Wienfluß“ geändert.
18. November 1993: Thomann ist zur K-Foundation Award
Ceremony nach London geladen. Thomann und Dagmar Gilbert-Thomann nützen die
Einladung um verspätete Flitterwoche in London zu machen.
1994
Januar 1994 erarbeitet Thomann das
Konzept für die Ausstellungsreihe „Tophits Yes“, die in der Kunsthalle
Wien realisiert werden soll („The Greatest Hits of Concept Art“, „Those
Were the Times. Golden Evergreens from
the Fluxus-Movement“, „The Very Best of
Landart“).
Aufgrund bürokratischer Probleme
entschließt sich Thomann zur Nicht-Realisation seiner Ausstellungsreihe,
schreibt aber eine Rezension in Profil 3/1994. Er unterzeichnet den
Artikel mit Georg Luis Thomann.
März 1994 startet Thomann im Rahmen von
„the thing Wien“ das Webkunst-Projekt „punkt-i“.
„In dieser Zeit gingen
immer mehr Leute mit ihren Heimcomputern online. Al Gore hatte das sogar im
Präsidentschaftswahlkampf von 1992 zum Thema gemacht. Aber niemand verwendete
das Internet, um damit Kunst zu machen. Alle Museen waren schon online. Man
konnte sich im Web die Sammlung des Nationalmuseums in Canberra oder so etwas
ansehen, aber es gab keine neue Kunst für das Internet.
Als wir mit der Arbeit
anfingen, versicherten mir meine Kollegen Robert Schneider und Gary Welz, dass
man ein Programm schreiben könnte, das verhinderte, dass man einen Punkt
schreibt. Das bedeutet, dass einem, sobald man sich an dem „Satz“ beteiligte,
klar wurde, dass man zu einem fortgehenden Statement beiträgt, das nie aufhört.
Meine Arbeit mit Dir und der Welt ist ein Abenteuer, das niemals aufhört. Jeden
Tag, jeden Monat, jedes Jahr ändert es sich. Inzwischen sind die Beiträge
grafisch viel avancierter als früher. Der Satz strahlt jetzt in einem heißen
Pink und hat pulsierendes Java, Video, Audio, Farbe, einfach alles. Am Anfang
war er schwarz-weiß, aber voller Seele und Persönlichkeit.“ (Thomann in
„de:bug“, 1999)
„Es scheint auf den
ersten Blick paradox, dass Thomann im April 1994 beginnt, sich vermehrt mit
Biologie und Naturwissenschaften zu beschäftigen. Nach eigenen Angaben liest er
täglich mindestens 300 Seiten zu Fragen des menschlichen Organismus und der
Evolution. Und das in seiner wohl produktivsten Phase als 'Einer der
wichtigsten und avanciertesten Denker des elektronischen Raums' (Karel Dudesek,
in seiner Antrittsrede als Vorstand des Ordinariats für visuelle
Mediengestaltung).“ (Michael Löbenstein, „Körperdiskurs“, Universität
Wien, 1999)
Dies ist kein Widerspruch für Thomann:
„Es war im Frühjahr
1994, kurz nach „punkt-i“, dass ich begonnen habe, mich für Fragen der
Organisation, der organischen Verknüpfung, der Grundbedingungen für Wachstum
und Lebensentfaltung zu interessieren. Ich denke, dass der KÖRPER, nicht bloß
als Metapher, sondern als unleugbare Vorbedingung jedes Kulturaktes begriffen
werden muss - ein Tabuthema der Linken, zweifellos, aber die hat ihren
moralischen Stellenwert spätestens in Kuweit und Sarajewo verspielt [...] ICH
bin, WIR sind, aber auch Nationen, Wirtschaftsverbände, Revolutionsbewegungen,
und auch der neue, virtuelle Raum, das NETZ sind doch zu allererst Organismen,
bevor sie Ideologien werden .... es ist das Kleinhirn, das verlängerte
Rückenmark, das uns die Gesetze gab, nicht der listige Alte, der vom Berg
steigt (Anm.: Moses); Kohlenstoff und Wasser, die teleologische Bewegung von
der ungestalten Materie zur Organisation der Organe; der Wille zur Reproduktion
und die Macht der Entropie ... Yeah, Yeah,
Yeah!“ (de:bug, 1999)
Aus diesen Überlegungen entsteht das
Konzept der Performance: „Every body needs some body. 25 geile Provokationen
für Linke“
12. Mai 1994 bis 18. Mai 1994: Thomann malt während eines
Kurzurlaubes („dieser Webkunstscheiß hatte mich einfach müde gemacht und ich
sehnte mich einfach nach Landschaft; gar nicht mal um welche zu malen, sondern
um welche anzuschauen“; Thomann 2000 in einem Gespräch mit Frank Apunkt
Schneider, das in der Ausgabe 14 des monochrom Magazins veröffentlicht werden
soll) auf dem „Gschwendtner-Hof“ in Gmünz, Tirol das fotorealistische Bild „Mieses
Bild dank schlechtem Scanner (Aber die Dargestellten haben eh ganz andere Probleme
– z.B. Angst vor der Zukunft, v.a. wegen dem Atom, aber auch sonst)“ und
konzipiert die Skulptur „Ohgott: die radioaktive Strahlung verwandelt ihn in
ein teuflisches Monster!“, die am 22. Oktober 1996 in Postbauer-Heng in der
Nähe von Neumarkt in der Oberpfalz vor dem neu eröffneten
„Nahversorgungszentrum“ aufgestellt wird.
„Ich geriet eher zufällig in diese aufstrebende Gemeinde und war
gelinde gesagt begeistert: eine sagenhaft boomende menschliche Hybris, die die
gewachsenen dörflichen Strukturen einfach so platt macht und damit in den
Bereich des Lacanschen Zeichens gerät. Ein unglaublich pathetischer
Abschiedsbrief des Authentischen, wenn Sie so wollen. Man findet dort in der
Kirche zum Beispiel Weihwasserbecken aus Plexiglas und sowas. Das „Nahversorgungszentrum“
ist so eine Art pseudo-futuristische Shopping Mall mit knallharten Rückschlägen
in den Neo-Klassizismus. Das kann man nicht beschreiben, das muß man gesehen
haben. Ich wollte Bestandteil jener Implosion des Realen sein und mußte ihnen
einfach meine Skulptur schenken. Zuerst waren sie skeptisch, aber ich habe sie
überzeugt, zum Teil mit Expertisen von Heinz Dreschke, der ja eine
vielbeachtete Arbeit über den Strukturwandel der Skulptur des öffentlichen
Raumes in der Postmoderne geschrieben hat. Leider konnte ich nicht durchsetzen,
daß die Skulptur auch zum Skateboardfahren freigegeben wird. Da war der
Stadtrat dann doch einstimmig dagegen.“ (aus einem Gespräch
mit der Architketurkritikerin Mascha Frank in Trial&Error
25. Sonderheft zum Steirischen Herbst 1998.)
12. Juni 1994:
EU-Beitritts-Volksabstimmung: Thomann spricht sich für die Europäische Union
aus. „Wir müssen der globalen Wirtschaft den Begriff des Wachstums, des
Wucherns und Vernetzens wieder entreissen - also gehen wir da rein, lassen wir
es wachsen, sich mischen und wuchern ... die Linke hat da einfach ein Problem
damit - ich nicht!“ („Der Standard“, Volksabstimmungs-Spezial vom 3.
Juni 1994) Thomann spricht sich grundsätzlich für die Schaffung integrativer
Strukturen aus.
In der Literaturzeitschrift „Manuskripte“
wird Thomanns Kurzgeschichte „Exjugoslawienurlaub“ veröffentlicht.
Thomann lässt seinen Protagonisten vom „Krebsgeschwür, das den Traum eines
gemeinsamen europäischen Staates zerstört hat“ sprechen. Der Protagonist
wünscht sich „Alois Mock vor den Europäischen Gerichtshof“. Die Reaktion des
deutschen Feuilleton sind vernichtend. (Siehe dazu die Analyse „Warum COOK
ISLAM ein Anagramm von ALOIS MOCK ist“ von Max Waldbrenner in den
„Salzburger Nachrichten“, 15. Juni 1994.)
19. Juni 1994: Thomann startet die Aktionsreihe: „Ich bin stolz
auf uns. Die Nacht der reitenden Subjekt-Leichen.
Selbst-Historisierungs-Schnappschüsse für ein Jahrtausend, das schon alles
hat.“ Beginnend mit der Hans-Moser-Todes-Performance vom 19. Juni 1964,
eine seiner ersten Aktionen im öffentlichen Raum, will Thomann (wie im die
Aktion begleitenden Manifest „Reif für die Museumsinsel“ formuliert): „alle
meine bis heute durchgeführten Performances und Aktionen zu ihrem jeweiligen
30. Jahrestag unverändert wiederholen. Da ich immer in Interaktion mit dem
jeweils aktuellen Zeitgeschehen (etwa dem Tod des Volksschauspielers Hans
Moser) zu inszenieren versuchte und mich damit durch das Prinzip der Aktualität
zum Knecht des bürgerlichen Geschichtsschreibungsprozesses und -modells
erniedrigte, will ich jetzt zu einem eher kugelgestaltigen Begriff von Zeit
vorstoßen, indem ich mich endlich von dem Überführungskonzept von Kunst und
Lebenspraxis zu lösen versuche. Ich will heute endlich wieder flüssig werden
und das heißt für mich auch: überflüssig werden, denn ich befürchte, wenn ich
mein Werk heute retrospektiv betrachte, trotz des ganzen ‚Pathos des
Verschwindes‘ (Karl-Eugen Broder: Giggi Sankt Pölten und Georg P. Thomann: Über
post- bzw. nonvitalistische Konzepte in der österreichischen Gegenwartskunst.
Manual 3. Wien 1987), dass ich ein ums andere Mal verdammt wichtig war. Das
stand ja so oder so ähnlich sogar schon im Profil (1983). Indem ich meine
eigene Retrospektive werde (und in 30 Jahren, so Gott will, wo ich dann wieder
an genau dem Punkt beginne: zu meinem eigenen Loop), erlöse ich mich vom
Aktionismus, dieser Krankheit, dieser Scheiße, diesem Kunstkrampf. Vielleicht
werde ich so ja blöder als Beuys und offensichtlicher als Jacques-Louis David.
Obwohl: blöder als Beuys, geht das?“
Am 19. Juni 1994 re-inszeniert Thomann also die
Hans-Moser-Todes-Aktion, indem er in der Kärtnerstraße in Papier gewickelte
Zwiebeln an männliche Passanten verteilt. Auf den Zetteln steht: „Hans Moser
ist gestorben und Sie haben es nicht bemerkt. Gehen Sie heim. Ihre Frau weint.“
Zwei Tage nach der Performance-Wiederholung veröffentlicht Thomann
den Aufsatz „Schafft ein, zwei, viele Georg Paul Thomanns“ unter der
Pseudonym-Dublette Herbert Gröschel/Albin Moroder Jr. in der Mailinglist fachschaft-informatik-kranich,
wo das fingierte Autorenpaar sich um die Beweisführung bemüht, dass es sich bei
Georg Paul Thomann nicht um eine reale Gestalt handelt, sondern um eine
virtuelle Medien- und Kunstexistenzform, eine Kollektivperson, die seit Jahren
innerhalb bestimmter Subkulturen benützt würde, um das gesellschaftliche
Teilsystem „Kunst“ zu attackieren. Ein Künstler allein könne gar nicht eine
derartige, zudem teilweise völlig widersprüchliche, Fülle an Werken, Spuren und
Präsenzen geschaffen haben. Die Autoren rezensieren eine solche Überführung von
Foucault/Deleuze/Guattari in die Tat euphorisch und fordern auf, den Namen
Thomann fürderhin bei künstlerischen Tätigkeit anstelle des eigenen zu
verwenden. Per Mail verbittet sich Thomann nur wenig später derlei
Unterstellungen, zumal sich das „ja so liest, als hätte ich den Artikel
selbst geschrieben, um mit meiner Vielseitigkeit anzugeben. Schließlich weiß ja
fast jeder in Wien, daß es mich gibt. Wer es nicht glaubt, soll nächste Woche
am Donnerstag um 14 Uhr ins Eisenbahn-Café (Opernplatz 14) kommen, dort werde
ich unter notarieller Aufsicht eine Palatschinke essen und die Kronenzeitung
lesen, was als Beweis ja genügen sollte, daß ich existiere.“ Anmerkung: das
bezeichnete Café existiert nicht unter der angegebenen Adresse, lediglich in
Steyr gibt es ein Café diesen Namens mit einer ähnlichen Adresse (Opheliegasse
14).
„Ich wollte dieser Erstarrung zum
Kunstnomaden entgehen, dieser ganze ausgelutschte Gestus des ‚Unterwegsseins‘,
der Flucht, des Verschwindens: Ja, pfui Teufel! Schlechter als Jack Kerouac, ja
sogar schlechter als Salinger, Hemingway und Novalis zusammen, mich ekelte
diese ganze halbverdaut-buddhistische Postmoderne an, das war mir zuwider und
ich hatte diesen Impuls: da mußt du raus, lieber gehe ich nach Nicaragua und
knalle Kontras ab, als daß ich mit dieser Darmverstopfung des postmodernen
Subjekts was zu tun haben wollte. Dieser verkappte Humanismus des Post-Humanen!
Am radikalsten habe ich das zu torpedieren versucht 1996 in der Galerie
Gayflower in New York, wo ich nur meine siebgedruckte Privatadresse ausgestellt
hab, 50 mal in verschiedenen Farben, 3 auf 4 Meter versteht sich und in schön
schiachen Farbkontrasten z.B. grün auf rotem Untergrund, und so“ (Gespräch
mit Jens Kristof in „Diagonale“ ORF, Juni 1998)
3. September 1994: Thomann präsentiert in
der „Kunsthalle Exnergasse“ sein Exponat „America, your body is a micro soft
machine“, eine Nordamerika-Karte, in der alle Städtenamen mit „Microsoft“
überklebt sind.
Thomann möchte in einer
„Dekaden-Auto-Retro-Phase“ (Zit. nach „Texte zur Kunst“) die Bilderreihe
„Helmut und Isaac“ fortsetzen.
- „Helmut und Isaac
Newton wollen Thatcher an die Titte, aber sie ist nicht mehr wichtig“
- „Helmut und Isaac
Newton sehen Sachen“
- „Helmut und Isaac
Newton und ihre Haribo Lakritzschnecken“
- „Helmut und Isaac
Newton besuchen Paul Breitner“
- „Helmut und Isaac
Newton auf dem Roskilde-Festival“
- „Helmut und Isaac
Newton im Freizeitstreß“
Oktober 1994: Fertigstellung des
Drehbuchs für „Wienfluß“. Der ORF ist mit etlichen Szenen nicht zufrieden.
Thomann droht öffentlich mit Selbstverstümmelung, sollte das Drehbuch nicht
akzeptiert werden. Der Generalintendant des ORF Gerhard Zeiler weigert sich „bei
diesem Kasperltheater weiterzumachen“. Der Ex-Generalintendant Gerd Bacher
interveniert.
November 1994: Thomann akzeptiert die
Streichung zweier „Wienfluß“-Szenen. („Österreich ist wohl noch nicht reif
für einen Schwanz mit Mayonnaise drauf.“)
Ende November 1994: Thomann, Schrödinger
und der ORF einigen sich auf Peter Patzak als Regisseur für „Wienfluß“.
1995
Februar 1995: Beginn der Dreharbeiten an „Wienfluß“
mit Franz Buchrieser („Löbö“), Ludwig Hirsch („Ulgu“) und Bibiane Zeller
(„Knrk“). Koproduziert mit NHK-Japan in HDTV.
Thomann besetzt – wegen der großen Kälte ohne Probleme - einen
Proberaum in der Arena; dort Experimente mit Askese und Helium unter deren
Einfluss Thomann die pädagogische Verkehrsoper „Mensch und Verkehr“
einspielt, die als Kassette bei Trüb veröffentlicht wird.
März 1995: Thomann beteiligt sich
anlässlich des Studentenstreiks [Sparpaket der ÖVP/SPÖ-Regierung] an einer
Lesung zum Thema „Schweine“. Thomann liest dabei ein Janosch-Kinderbuch.
(„Eigentlich war der Text zu herzig, aber was solls. Marx ist das auch.“)
April 1995: In einer Kooperation mit Sven
Väth entsteht das Techno-Poem „Gilgamesh 3003“ (EYE-Q/WEA Records). Das
von Thomann geschriebene und von Joachim Król gesprochene „geDICHT“ („Tischlein
Track dich, Tischlein Tech dich, Tischlein Tag dich, Tischlein Tactic“) wird
ein kommerzieller Flop. Der Remix von Jochem Paap wird allerdings ein großer
Erfolg in der Londoner Clubbingszene.
13. Mai 1995: Anlässlich seines 50. Geburtstages beraumt Thomann
eine Pressekonferenz an. Dort kündigt er den Beginn seines Werkzyklus „Ich
stelle mich meinem Alterswerk“ an.
Als dessen „Schritt 1“ findet von Juni bis August 1995 im
Plankton/Wien die Ausstellung „Meditationen über den Niedergang. Ornament
und Versprechen“ statt. Thomann zeigt die „altmeisterlichen und formal ansprechenden“
(aus dem begleitenden Manifest „Kunst kommt vom ›Können-Wollen‹“)
Gemälde: „Die Würde von Günther Grass ist unantastbar“; „Alte
Luftaufnahme von florierendem Baugeschäft in Büro von marodem Baugeschäft,
gilb“; „Wir wollten keine Bullenschweine, wir wollten Phantasie,
Illusion, Poesie und Magie“; „Mein Bauch gehört Dir. Ich schenk‘ ihn
Dir!“; „Gevatter Hoffnung“; „Ich habe Dir meine Gefühle gezeigt,
nun zeige Du mir Deine!“; „Durch die Zerstörung der Perspektive hindurch
schimmert gar nix!“; „Kubistische Gitarrenspielerin des menschlichen
Durchhaltevermögens“; „Schwarzes Quadrat privat“; „Theodizee
trotz Lepra, Leo Kirch und Brit-Pop“; „Ich kann kein Weimar mehr sehen!“;
„Währenddessen...“; „Plötzlich...“; „Ich verspreche euch
durchaus einen Rosengarten“; „Dieser Sonnenaufgang bewahrt mich vor dem
Schlimmsten“; „Kommerzielle Landschaft, zwar dank Brüssel verseucht,
aber das sieht man ja nicht“; „Niemand ist eine Insel, höchstens Peter
Handke“; „Karl Marx zum Fünfzigsten“; „Stefan Weber wird von Außerirdischen
entführt“; „Sie steht voll auf Schmerz, er auf italienische Lebensart“;
„Warum weinst Du, kleiner Asylbewerber?“; „Frühstück im Grünen trotz
zweier verlorener Weltkriege“; „Bill Gates geheimster Wunsch: von
Stephen Hawking im Bett erniedrigt zu werden“; „Ich mich schämen? Ja
wieso denn?“; „Historischer Brunnen in Schengen“; „Verschneites
Konzentrationslager“, „Britpop-Zielgruppe 1-7“; „Ich war ein
zärtlicher Chaot“; „Ich wollte es so und darf mich nicht beklagen“; „Kilometerlange
Menschenfabriken säumen die Autobahnen Europas“; „Jemand, der in der
Kärtner Straße nie „Blowing in the wind“ sang“; „Seelenwanderschuh“;
„Die Permeabilitätsfalle (Prototyp eines Radargeräts auf der
burgenländischen Esoterikmesse)“; „Die Eßbarkeit von Nahrungsmitteln (Abstraktes
Bild eines unbekannten Künstlers auf Butterberg)“; „Resonanzfähigkeitsraum
der Uni Heidelberg, innen“; „Bakunin-Biographin Ricarda Huch (Porträt)“
Als „Schritt 2“ veröffentlicht Thomann im November die
Austropopplatte: „Georg Paul Thomann: „Sanfter Rebell“„. Die Platte
enthält typischen, „eher minderwertigen Austropop von triefender
Selbstgerechtigkeit. Nicht als Genre-Kritik, sondern als Ausweg vor eher
minderwertigem Austropop und triefender Selbstgerechtigkeit“ (Georg Paul
Thomann im Skug-Interview mit Didi Neidhart). Die ausgekoppelte Single „Nix,
wos mi reut“ und das Stück „Mir is heut so autobiographisch“ beschreiben
dabei den künstlerischen Entwicklungsgang Thomanns; „Du bist die Arte Povera
aus Gemeindebau“ ist angeblich ein Lied über Thomanns Beziehung zu Isabelle
Rascot und das Stück „Mei potschertes Gesamtwerk“ ist eine Coverversion
des Hansi Orsolic-Hits. Das Cover der CD zeigt ein unterbelichtetes Foto, das
ihn angeblich während des Einbruchs ins Atelier von Arnulf Rainer zeigt und enthält
außerdem den Aufkleber „Produziert von Christian Kolonovits“; auf Klage
desselben muss dieser bei der noch nicht ausgelieferten Auflage jedoch entfernt
werden, er wird ersetzt durch den Aufkleber „Die Gedanken sind frei“.
Die Kritiken fallen eher mäßig aus, sind jedoch im unbehaglichen Tonfall eines
halb artikulierten Kunstverdachts gehalten.
Als „Schritt 3“ folgt das „Werk“ „Vergeben und
Vergessen. Ich entschuldige mich formell und doch von ganzem Herzen“, das
darin besteht, dass Thomann einen „Offenen Brief an die Opfer meines
Jugendlichen Leichtsinns“ in der Zeitschrift Magma veröffentlich.
Dort heißt es: „Ich wollte immer das „enfant terrible der österreichischen
Kunstszene“ sein. Den Gedanken, was ich damit anderen Menschen antue, habe ich
immer verdrängt. Daher mein Nervenzusammenbruch letztes Jahr, wie sie
vielleicht in der Kronenzeitung gelesen haben. Ich habe vieles falsch gemacht,
habe mein Leben zum billigen Effekt hochstilisiert. Verlor mich und andere
dabei ganz aus dem Blickfeld. Am Ende war ich ganz allein. Eine verkrachte
Existenz inmitten eines Werkzusammenhangs angefüllt mit völliger Leere und
Abwesenheit. Ich hatte mich selbst verloren. Ich kam mir vor wie der Schluß von
Melvilles Moby Dick. Dank der Hilfe meiner Therapeutin, der Prominenten-Analytikerin
Dr. Ursel Hadwiga, habe ich gelernt, wieder zurückzukommen zu mir selbst. Ich
möchte mich an dieser Stelle entschuldigen bei allen, die zum Opfer meiner
egomanischen und irgendwie urösterreichischen Destruktivität wurden, v.a. beim
André, beim Arnulf und beim Adolf.“
Als „Schritt 4“ führt Thomann im Sommer 1995 das „Festival
der Clowns und Tränen“ in der auf der Wiener Donauinsel errichteten „Manege
der Illusionen und des Friedenswillens“ auf. Bei der Eröffnungsrede hält
sich Thomann eine André Heller-Platte vors Gesicht. Während Gaukler,
Clowns und Artisten ihr Können darbieten, laufen im Hintergrund Aufnahmen vom
deutschen Luftkrieg.
Als „Schritt 5“: Thomann führt die Performance „Bitte
thematisieren Sie meine Abwesenheit“ im Erika-Kino durch; Thomann ist nicht
anwesend, geht währenddessen als Harlekin verkleidet auf ein Studentenfest an
der Akademie der Bildenden Künste.
„Was mich an Thomann fasziniert ist das Nichtidentische seiner
Arbeitsweise, das Verschwinden der Künstlerpersönlichkeit in der
Stilpluralität; eine Einzelausstellung von Thomann sieht immer aus wie eine
Gruppenausstellung.“ (Ulrich von Rosen in „1000 Jahre Mitteleuropa.“)
„Thomanns Präsenz ist das Nichtidentische. Der Raum, in dem
Thomann agiert und zu sich selbst kommt, ist das Amalgam des Möglichen mit dem
Nötigen. Weder Weberpalz noch Arnold Günther sind von einer derartigen
Selbstduchrdrungenheit des Plurivoken bewegt, die sich immer bloß selbst
„begeht“.“ (Alexander Kluge in „Kandelbar“)
„Die Kraft dieser Performance
liegt in der unerträglichen Laschheit ihrer Idee.“ (Achim Baltung in Magazyn)
Am 8. Oktober 1995 wird die Premiere von „Wienfluß“
auf ORF 1 ausgestrahlt. Die „Freiheitlichen“ kritisieren aufs Schärfste.
Thomann und Peymann werden am 10. Oktober zum Thema „Kunstskandalisierung“ in
die „Zeit im Bild 2“ geladen. Thomann bietet den Freiheitlichen sich selbst als
Nahrung an.: „Ich bin ein gesunder Volkskörper, fressen sie mich. Und ich
habe mehr Bildpunkte.“
Dazu Stefan Broniowski in der „Volksstimme“:
„Wie so vieler Schwachsinn aus dem kulturkonservativen Eck ist auch der
jüngste rechte Backlash ein hausgemacht österreichischer. [...]. Wir dürfen
wieder mal stolz sein: Schon vor einem Botho Strauß und seinem unsäglichen
„Bocksgesang“ haben alternde Provokateure wie Georg Thomann einen rechten
Körperkult und seine Verherrlichung des Biologischen wieder diskursfähig
gemacht. Der „Gesunde Volkskörper“ is back again, und wieder einmal aus dem
Mund eines vermeintlichen Achtundsechzigers ... Danke Herr Thomann - das haben
wir aber wirklich nicht gebraucht!“
Am 28. Oktober 1995 findet in Wiener
Neustadt die „Rex“ Aktion statt:
„Kommissar Rex doch
nicht in Wiener Neustadt. Wer immer dahintersteckt, der Scherz ist gelungen.
Mittels „professionell gefertigtem Flugblatt“ (Polizeibericht) samt Logos der
Polizei und des ORF-Landesstudio Niederösterreich wurden die Wiener
NeustädterInnen für den 28. Oktober zu einer Veranstaltung mit Tobias Moretti
und Kommissar Rex in den Hof des örtlichen Polizeihauptquartiers geladen. 200
Interessierte, manche sogar mit eigenem Kommissar Rex-Verschnitt für den
ebenfalls angekündigten Rex-Imitationswettbewerb, kamen in den Polizeihof.
Allein Tobias Moretti und Kommissar Rex fehlten ... Kein Wunder: Der Termin war
frei erfunden. „Die Sache wird ein Nachspiel haben!“, droht
Polizei-Oberstleutnant Manfred Fries den unbekannten TäterInnen. „Ich weiß
nicht, wer und warum man sich einen derart dummen Scherz mit uns erlaubt hat“.
Aber er weiß, daß das Flugi auf Corel Draw hergestellt wurde. Wir jedenfalls
werden die Aktion für den noch auszuschreibenden Internationalen Preis für die
beste Sabotage-Aktion des Jahres 1995 vorschlagen.“ (Quelle: TATBlatt +45,
9. November 1995)
Thomann und Frank Krenz schreiben am 3.
Dezember einen Bekennerbrief an die Wiener Neustädter Polizei-Oberstleutnant
Fries und bitten um „Adventsvergebung“. Das Bezirksgericht Wiener
Neustadt verurteilt Thomann zu 60.000 Schilling Bußgeld.
November 1995: Intensive Zusammenarbeit
mit Christoph Kummerer und Martin Stepanek und Gründung der Musikformation „Langhans
Teufel“.
1996
Januar 1996: aufgrund persönlicher
Spannungen zwischen Thomann und Kummerer wird das Projekt „Langhans Teufel“
nach vielversprechenden Jam-Sessions abgebrochen.
Februar 1996: Eine Umfrage des Fessl-Instituts
unter Jugendlichen zum Thema „Homosexualität“ ergibt, dass mehr als 60% der
männlichen Jugendlichen Homosexualität als „abnorm“ und „abstoßend“ empfinden.
Thomann nimmt den Synthiepopsong „Kids you’re shit“ auf.
März 1996: Urlaub mit Dagmar Gilbert-Thomann
in Kreta.
Gilbert-Thomann hat einen schweren
Tauchunfall und fällt ins Koma. Juni 1996 Überstellung von Gilbert-Thomann ins
Wiener AKH.
Thomann besucht seine Frau bis zu ihrem
Tod am 20. August 1996 täglich.
„Jeden Tag konnte ich
sehen, wie mehr und mehr das Leben aus ihr schwand ... All mein Schmerz, all
meine Teilhabe glitt an dem, was von ihr übrig war, ab. Wissen Sie, mein ganzes
Interesse an der Biologie, am Wachstum und dem ‚élan vitale‘ der Natur stieß
auf eine einzige, große Negation: Den Körper eines geliebten Menschen,
reduziert auf seine Primärfunktionen ... Kohlenstoff again, aber jetzt erst
sehe ich den Zynismus, der wohl seitdem im Zentrum meines Körperdiskurses
steht. Irgendwann einmal werde ich das machen, wissen Sie ... einen Tank mit
Wasser drin und 70 Kilo Nägel, und ich werde es „Dagmar“ nennen, denn mehr kann
uns die Biologie scheinbar auch nicht über uns sagen.“ (Thomann 1997 im
Gespräch mit Wolfgang Kos, unveröffentlicht.)
Thomann malt das Bild „Helmut und
Isaac Newton glauben nicht an den Fortschritt der Medizin“.
1. bis 26. Oktober 1996: Thomann ist
Kurator des Festivals „Labyrinth“, das in ausgedienten Torpedohallen in
Kopenhagen stattfindet.
Es entsteht „Ende der Musik, wie wir
sie kennen und schätzen“, ein CD-Einzelstück mit Umsetzungen von
EEG-Strömen Thomanns. Thomann überschüttet die CD mit Natronlauge und keucht
dabei heiser.
„Es war hart.
Weitermachen und dennoch stehenbleiben. Nicht weiterkönnen und trotzdem
vorwärts rutschen.“
November 1996 wird Thomann von Catherine
David zur „Documenta X“ geladen. Er sagt zu.
Thomann besucht Christoph Ransmayer in
Irland und bleibt Anfang 1997.
1997
14. Januar 1997:
Eröffnung der Thomann-Ausstellung „Keine Macht für
jemand!“ im Städelschen Kunstinstitut Frankfurt. In einem Gespräch
mit René Lohendorf für das Theorie-Zine Transgender erklärt Thomann:
„Ich wollte Bourdieu remixen. Der Gedanke war, daß
gesellschaftliche Machtverhältnisse ja in der Postmoderne grundlegend anders
funktionieren als sagen wir 1950. Die Verteilungen und Isometrien von „Macht“
und „Ohnmacht“ wollte ich sichtbar machen, indem ich den Titel der zweiten Ton,
Steine, Scherben-LP und nachmaligen Spontispruch durch so einen Daft
Punk-mäßigen Filter der Diversität jage. Man könnte die Ausstellung als eine Mischung
aus Foucault und Provinz-Abstraktionismus bezeichen. Also ich hatte da zahllose
Farb-, Schmier- und Klecksbilder, die damals im Rahmen der Reihe „Ich übe für
die Bedeutungslosigkeit!“ entstanden sind. Einen ganzen Keller voll. Ich war
gerade am Umziehen und stand jetzt vor der Wahl: Wegschmeißen, der
Nationalgalerie schenken oder als eigene Ausstellung raushauen. Klar, die
Bilder sind völlig scheiße; aber ich dachte mir mit schönen Titeln geht’s. Da
ich schon immer mal was zum Thema „Macht“ machen wollte, bot sich das quasi an,
das zusammenzubringen und die Bilder einfach per Betitelung zu einer
entsprechenden Reihe zusammenzufassen. Ich habe sie dann ja auch super-billig
angeboten, 300 Schilling pro Bild, so dass sie weggegangen sind wie die warme Semmeln.
Durch die Menge habe ich trotzdem einiges verdient. Den Rest habe ich der
Gemeinde St. Pölten geschenkt.“
Die Ausstellung eröffnet mit einer Bodypainting-Aktion, bei der Thomann zusammen mit Ina Krell, die als Maskenbildnerin am Frankfurter Staatstheaters arbeitet, ein totes Pferd bemalt. Musikalische Untermalung durch eine Sven Väth-CD und ein Streichquartett.
Thomann trägt dazu Gedichte aus dem Zyklus „Wozu braucht Peter Handke zehn Kilo Pferdefleisch?“ vor und zeigt vor einem Jugendstilspiegel Fechtkunststücke mit einer Klarinette als Degen, wobei er alternierend „New York!“ und „If I can make it there, I can make it with Nancy Reagan“ und „Did you ever know: I’m my hero!“ ruft.
In der Ausstellung zu sehen sind insgesamt 86 Bilder mit den
Titeln:
- „Keine Macht für Jürgen!“
- „Keine Macht für Frau Stirnima!“
- „Keine Macht für den Hofer aus dem 20er Haus!“
- „Keine Macht für Engelbert Humperdinck!“
- „Keine Macht für Gabi!“
- „Keine Macht für John Lennon-Biographen!“
- „Keine Macht für Simone!“
- „Keine Macht für Rüdiger oder Stefan!“
- „Keine Macht für die Mächte des Bösen!“
- „Keine Macht für Uwe Johnson!“
- „Keine Macht für Pablo Neruda!“
- „Keine Macht für Dragan!“
- „Keine Macht für Marylou!“
- „Keine Macht für Aktionismus!“
- „Keine Macht für Kinder!“
- „Keine Macht für meinen Cousin!“
- „Keine Macht für ›Armeen aus Gummibärchen!‹“
- „Kein Macht für Heinz aus Wien!“
- „Keine Macht für Limburg!“
- „Keine Macht für Leute, die Geo lesen!“
- „Keine Macht für gesellschaftliches Aus!“
- „Keine Macht für Jesus!“
- „Keine Macht für den Geist von Potsdam!“
- „Keine Macht für Lehrer Dr. Specht!“
- „Keine Macht für Monotonie in der Südsee!“
- „Keine Macht für aus einer Mücke einen Elefanten machen!“
- „Keine Macht für alte Bekannte!“
- „Keine Macht für uninteressante Mitmenschen!“
- „Keine Macht für Leute, die Pauschalreisen buchen und sich
hinterher beschweren!“
- „Keine Macht für Idiosynkrasien, außer sie bringen die
Menschheit weiter!“
- „Keine Macht für PTH-Nicht-Schmecker!“
- „Keine Macht für halbe Sachen!“
- „Keine Macht für ganze Kerle!“
- „Keine Macht für alte Garde!“
- „Keine Macht für Slogans!“
- „Keine Macht für Veränderungsunfähigkeit!“
- „Keine Macht für starre Regeln!“
- „Keine Macht für den Psychiater von Brian Wilson!“
- „Keine Macht für die normative Kraft des Faktischen!“
- „Keine Macht für Neubauviertel!“
- „Keine Macht für Evil Knievel!“
- „Keine Macht für Theorie und/oder Praxis!“
- „Keine Macht für alle, die noch nicht reif dafür sind!“
- „Keine Macht für die Bahnhofsvorhalle von Hammünkeln!“
- „Keine Macht für Theo van Gogh!“
- „Keine Macht für Kellner, die einen übersehen!“
- „Keine Macht für den Einzelhandel!“
- „Keine Macht für Internetpornographie, außer sie ist gut
gemacht!“
- „Keine Macht für Kinderschänder, das dürfte ja wohl Konsens
sein!“
- „Keine Macht für die Biedermaier, denn sie sind die
Brandstifter!“
- „Keine Macht für die Brandstifter, denn sie sitzen in Bonn!“
- „Keine Macht für meine Freunde, denn die können auch nur reden!“
- „Keine Macht für Slipeinlagen!“
- „Keine Macht für Massenmedien, die die Würde des Menschen zum
Fußabstreifer degradieren!“
- „Keine Macht für Gesundheitsschuhe!“
- „Keine Macht für Jerry Zachary Adamski!“
- „Keine Macht für Kennedy-Attentäter!“
- „Keine Macht für den diskreten Charme der Bourgeoisie!“
- „Keine Macht für Pseudo-Kippenberger!“
- „Keine Macht für den historischen Woyzeck!“
- „Keine Macht für Magellan!“
- „Keine Macht für alte Hasen im Showgeschäft!“
- „Keine Macht für Exilliteratur!“
- „Keine Macht für Srebrenica!“
- „Keine Macht für den Muff von 1000 Jahren!“
- „Keine Macht für Bitte nicht hupen ...!-Autoaufkleber!“
- „Keine Macht für Weltverbesserer!“
- „Keine Macht für grobe Fouls!“
- „Keine Macht für Nachrichtensendungen, die zu
sensationsheischend sind!“
- „Keine Macht für Beispielsätze, denn die lenken doch nur ab!“
- „Keine Macht für Leute, die immer nur fragen, was der Staat für
sie tun kann!“
- „Keine Macht für Babyphon!
- „Keine Macht für SMS-Scheidungen!“
- „Keine Macht für die, die es schon immer gewußt haben!“
- „Keine Macht für die, die es ja gleich gesagt haben!“
- „Keine Macht für Leute, die nicht mal wissen, was Methexis ist!“
- „Keine Macht für Leute, die sich einen Christopherus an den
Rückspiegel hängen!“
- „Keine Macht für Irish Folk-Fans!“
- „Keine Macht für Irish Folk-Fans! II“
- „Keine Macht für Leute, die Briefmarken mit Pritt-Stift
einschmieren, damit sie sie noch mal benutzen können!“
- „Keine Macht für das Milieu!“
- „Keine Macht für Erfahrung!“
7. März 1997:
Thomann wird von der Künstlergruppe „monochrom“ zu ihrer „Gehirnaquaplaning: Diskurs- und Gameshow“ in die Public Netbase geladen und spielt im Team von „Ex Digest“ und „Sacro Egoismo“ (Wiener Punk- und Hardcore-Szene).
Ende März nimmt Thomann den Musiktrack „Versuch ein Lied zu machen,
das Amina Handke auflegen würde“ auf.
Teilnahme an der Ausstellung „Die
Treffsicherheit seit Werndl“ (17. Mai - 19. Juli 1997,
Kunsthalle.tmpSTEYR), wo Thomann unter dem Pseudonym Johannes „Johnny“
Muggenthaler ein Selbstporträt mit einer mit den Zähnen abgefangenen
Patrone in die Mechanik einer „Schießanlage ohne Schusswaffe“ installiert. Das
Werk trägt den Titel „Nice Try, Death“.
5. Juni 1997: Mitbeteiligung Thomanns an
der Ausstellung „It‘s A Better World. Russischer Aktionismus und sein
Kontext“ in der Wiener Secession. (Kuratoren: Johanna Kandl und
Joseph Bakstein). Thomann verbringt die darauffolgende Woche mit dem Moskauer
Aktionisten Alexander Brener (der fünf Monate vor der Ausstellung in Amsterdam
ein Malevich-Bild mit einem grünen Dollarzeichen übersprüht hat und direkt aus
der Haft zur Ausstellung nach Wien kommt) und Oleg Kulik, der nackt auf allen
Vieren vor den Toren der „Secession“ angekettet als „Revisor dog“ die Besucher
am Betreten der Ausstellung hindert. Thomann ist beeindruckt und sagt für einen
Besuch in Moskau 1998 zu. („Ich hatte mit den beiden zwar das erniedrigende
Gefühl, das alte Väterchen zu sein, aber irgendwie war das befreiend. Erstmals
nach Dagmars Tod fühlte ich mich wieder lebendig.“)
Documenta X: 21.
Juni bis 28. September 1997
„Selbstporträt als
Ikearegal“: Thomann stellt auf der Documenta X ein Regal der Marke „Billy“
aus und bezichtigt sich in einer Pressekonferenz öffentlich der Ideen- und
Perspektivlosigkeit, außerdem weist er darauf hin, dass die Installation ein
Plagiat des Werkes „Selfportrait as a Chinese Fastfood-Store“ des New
Yorker Geo-Realisten Morgan Werner ist. Thomann erklärt, er sei völlig
ausgebrannt, menschlich betrachtet „am Ende“, widerwärtig und außerdem
Methamphetamin-süchtig. Auch habe er im Alter von zehn Jahren seine vier Jahre
jüngere Schwester dazu gezwungen, sein Glied in den Mund zu nehmen. Eine
anwesende Thomann-Expertin (dargestellt von Elena Zwang) wirft ein, Thomann
habe gar keine Geschwister gehabt, sei als Einzelkind aufgewachsen. Thomann
erwidert, er meine das „mehr so theoretisch“. Schließlich zieht Thomann
einen nach dem katholischen Beichtspiegel verfertigten Beichtzettel aus seinem
Jackett und beginnt seine „Sünden“ zu verlesen. Darunter befinden sich auch
solche, wie: „Bin während eines Otto Mühl-Orgelkonzertes eingeschlafen“
und „Habe über meinen Steuerberater 50 Microsoft-Aktien gekauft“.
Schließlich trinkt Thomann eine halbe Flasche Slibowitz und beginnt zu lallen:
Eigentlich sei er schon seit Jahren impotent. Er geht auf die Zuhörer und
Pressevertreter zu, fällt ihnen um den Hals, heult, wird aggressiv etc. Zu
guter Letzt fällt er vom Podest, erbricht und stammelt, im eigenen Kotter
liegend: „Ich habe an die Kunst geglaubt!“. Plötzlich steht Thomann auf,
verneigt sich, bedankt sich für die Aufmerksamkeit und erklärt, es habe sich
nur um einen Fake gehandelt, die Slibowitzflasche habe „eh bloß Wasser
enthalten und das mit dem kotzen habe er trainiert“.
Begeisterte Kritiken der Performance in „Art
Forum“ und „Springer“.
Thomann geht Anfang August 1997 auf eine
Albanien-Reise. Thomann verfasst den „Albanien-Baedecker“, der 200 leere Seiten
enthält.
17. August 1997: Thomann tritt im Rahmen
der Elektronikmusik-Veranstaltung „Picknick mit Hermann“ auf und spielt mit
einer Elektro-Zither das Lied „Saufen mit Ostermayer, einem ORF
Angestellten“ (Rhiz 003/1).
Am 1. September 1997 verklagt Thomann die
„Documenta“-Kuratorin Catherine David, weil diese in verantwortungsloser Weise
sein Werk „Selbstporträt als Ikearegal“ ausgestellt habe, obwohl dies
offensichtlich der „letzte Kackriss“ gewesen sei. David habe damit ihre
kuratorische Sorgfaltspflicht in „himmelschreiender Weise“
vernachlässigt und ihm, Thomann, mehr geschadet als genützt, da er
offensichtlich zum Zeitpunkt der Werkherstellung nicht voll zurechnungsfähig
gewesen sei; was David auch hätte merken müssen, „sie kennt mich ja lange
genug“: „Ich hatte mich einsam gefühlt und war tablettenabhängig. Mir
war einfach jedes Maß und Ziel abhanden gekommen. Das Ikearegal habe ich
einfach bei mir aus dem Keller geholt, weil der Termin für die Einreichung der
Exponate gekommen war und ich nix vorzuweisen hatte. Meine Freundin hatte mich
gerade verlassen und ich war echt am Boden. Meines Erachtens wäre es Catherine
Davids Pflicht als Documenta-Leiter gewesen mein „Selbstporträt als Ikea-Regal“
zurückzuweisen. Ich berufe mich hierbei vor allem auf die Schriften Johann
Jakob Winckelmanns.“ (Anm.: die Person Johann Jakob Winckelmann ist von
Thomann frei erfunden und darf nicht mit dem Archäologen und Philosophen Johann
Joachim Winckelmann [1717-1768] verwechselt werden.)
Oktober 1997: Anlässlich des Todes von Martin Kippenberger collagiert Thomann das Bild: „›Kippenberger – ich vermisse Dich!‹ bzw. ›Taka Taka‹ bzw. ›Phlegmatische Kritik am Strukturalismus‹ bzw. ›Das Vexierbild des Gesellschaftlichen, und damit basta!‹“
31. Oktober 1997: Thomann präsentiert –
mit über einem Jahr Verspätung - den Synthiepopsong „Kids you’re shit“
beim Transmitter-Festival Hohenems.
Im November 1997 verkündet Thomann die
Existenz des „Ytong-Chromosoms“.
Dezember 1997: Elena Brandstätter-Schmitz veröffentlicht in
„Singulär 3. Cultural Studies. Wien 1997“ den Text „Antisemitische, sexistische
und rassistische Tendenzen der österreichischen Gegenwartskunst“, in dem sie
neben Schwarzkogler, Mürz, Simascheck und Arnulf Rainer auch Thomann vehement
angreift. Unter anderem das Projekt André Hitler wird von ihr als
„antisemitischer Kunsthochschul-Ulk“ kritisiert, „der sich das konkrete
Bedeutungsarsenal der von ihm ins Feld geführten kulturellen Zeichen nicht
genügend bewußt gemacht [habe] oder sogar zum Zwecke der Erzeugung
parodistisch-ironischer Effekte mißbrauche, gerade gegen Repräsentanten eines
Fortbestandes jüdischer Kulturelemente innerhalb der österreichischen
Volkskultur. Gerade hierin läuft die Kritik der Projekte „André Hitler“ und
„Der Arische Brauer“ ins Leere bloß zynischen Abrufens von Schockgehalten ohne
dezidierte Positionierung seitens der Künstler. Gerade die Tatsache, daß auf
den wenigen Konzerten der André Hitler auch rechtsradikale Symbole (Hitlergruß)
seitens des Publikums zur Schau gestellt wurden und wohl auch die rechte
intellektuelle Elite sich den nivellierenden Spaß mit Thomanns Symbolverwirrung
hat wohlsein lassen, macht deutlich, inwieweit solche transgressive Kunst nicht
je schon dem Wiedererstarken neorechter (Kunst-) Tendenzen in die Hände spielen
würde. [...] Selbiges gilt in besonderem Maße auch für Arnulf Rainers
Bild-Zyklus „Amselfeld“ (1988).“
In einer Leserzuschrift an „Singulär“ schreibt Thomann: „Ich pflichte, auch wenn es schwerfällt, mir das abzunehmen, ganz im Elena Brandstätter-Schmitz bei“. Vom heutigen Standpunkt und angesichts der sogenannten p.c.-Bewegung, die gerade ältere Künstler zu einer Entscheidung für oder wider das gesellschaftlich Falsche zwinge, sei das Projekt „André Hitler“ nicht dem Teufelskreis bloß provokativen Abrufens von Symboliken entkommen. Die bereits in Planung befindliche Wiederveröffentlichung von „Wollt ihr die totale Phantasie“ auf dem Bremer Industriallabel „Scholastik&Muräne“ wird im letzten Moment gestoppt. Thomann verfasst einen Aufsatz, der parallel in „Texte zur Kunst“, „Singulär“ und dem kroatischen Artzine „PrePost“ veröffentlicht wird, der kritisch das eigene Werk sichtet und sexistische und rassistische Gehalte aufdeckt, kritisiert und reflektiert.
1998
Im Januar 1998 beginnt Thomann mit der
Arbeit an seinem Buch „Die Konflikt-Masche“.
Im selben Monat Gründung der „Free Rave
Formation Sapperlott“ mit Franz Ablinger, Markus Hofer und Martin
Kraushofer.
31. Januar 1998: Thomann tritt mit der
Gruppe „Die Mäuse“ im Schlachthof in Wels auf. Thomann unterbricht
unabgesprochen das Konzert und verliest ein „Anti-Mego-Kabarett-Manifest“.
Thomann wird ausgebuht und von den Saalgästen mit Flaschen beworfen.
„Mäuse“-Sänger Tex Rubinowitz wird dabei an der Nase verletzt.
Der Performance-Künstler Walter Pfriemer
in einem Radio Orange/Wien-Interview über Thomann:
„Ich kenne Thomann seit
einem Konzert der Gruppe „Die Mäuse“ im Alten Schlachthof in Wels. Ich war an
diesem Abend für die optische Gestaltung des Raumambientes zuständig und hatte
dazu in monatelanger Vorbereitung eine Maus dressiert. Die Maus konnte einen
kleinen Basketball mit der Schnauze in einen Basketballkorb werfen, ohne in ein
regelwidriges Dribbling zu verfallen.
Um die Maus so weit zu
bringen, ließ ich sie in einem kleinen parkettausgelegten Häuschen rund um die
Uhr ein Basketballspiel zwischen den „Chicago Bulls“ und „New York Knicks“
(98:101) aus dem Jahre 1994 betrachten. Als ich bemerkte, dass die Maus eine
besondere Affinität zur Person des New York Spielers Patrick Ewing entwickelte
taufte ich sie Bobby Duffy. Im Häuschen Bobby Duffys wurde nach ungefähr einem
Monat zuerst ein kleiner Basketball, etwas später auch ein Korb angebracht. Ich
erzog Bobby durch folgendes Experiment: in einem kleinen Nebenhäuschen ließ ich
100 Miniaturdressen der New York Knicks mit der Rückenaufschrift „Patrick Ewing
- 10“ aufhängen. Eine fremde, ausgehungerte Maus durfte in das Nebenhäuschen,
um eines der Sportdressen zu verzehren. Während dieser Zeit musste Bobby Duffy
einen Korb werfen. Wenn Bobby Duffy dies geschafft hat, wurde die Sportdressen
verzehrende Maus aus dem Nebenhäuschen genommen und gemeinsam mit dem
angeknabberten Sportdress mittels Pürierstab vermengt und anschließend an Bobby
Duffy verfüttert.
Sollte Bobby Duffy
während der Sportdressenknabberzeit keinen Korb geworfen haben, wurde die
andere Maus freigelassen und eine weitere noch ausgehungertere Maus durfte ein
Sportdress verspeisen. Nach vier Tagen war das Experiment beendet, da Bobby
Duffy 87 Körbe geworfen hatte. Nur 13 Mäuse wurden freigelassen. Da Bobby Duffy
während dieser 4 Tage 47 Gramm an Gewicht zugelegt hatte, verordnete ich ihm
ein verschärftes Training, das ich mitfilmte. Bobby Duffy warf innerhalb einer
Stunde 386 Körbe und wurde anschließend aus dem Basketballexperiment abgezogen,
um auf das nächste Experiment namens „20 Jahre Cordoba“ vorbereitet zu werden.
Der einstündige
Videofilm wurde während des Mäuse-Konzerts zur Gänze gezeigt. Dazwischen war
immer wieder der Schriftzug „Meuse“ zu lesen, als Referenz an die
gleichlautende Musikgruppe.
Thomann unterbrach das
Konzert mit seiner „Anti-Mego-Kabarett-Manifest“-Ankündigung. Danach kam es zu
Ausschreitungen. Als Thomann im Rahmen der Schlägerei am Boden zu liegen kam,
schulterte ich ihn, um mit ihm gemeinsam über unsere Kunstauffassung zu
diskutieren. Wir verbrachten eine Nacht im Welser Wirtshaus „Mustafa“, wo
Thomann Unmengen von „Sis Kebab“ zu sich nahm.“
Februar 1998 beginnt Thomann mit der
Arbeit an seiner Ölbildserie „Sanfte Revolutionen“.
- „Sanfte Revolution für
die Haut: Kleenextuch im Mund einer erschossenen Geisel“
- „Sanfte Revolution in
Osteuropa: toter tschetschenischer Milizionär auf einem Feldweg bei Grosny“
- „Sanfte Revolution der
Kommunikation: masturbierender Schüler vor Kinderporno-Website“
- „Sanfte Revolution der
Gesellschaft: brennendes Asylbewerberheim in Nordrhein-Westfalen“
- „Sanfte Revolution der
Musik als sanfte Revolution der Gesellschaft: Mitarbeiter des Berliner
Umweltamtes nach der Loverparade“
- „Sanfte Revolution im
Straßenverkehr: Unternehmensberater weiß noch nicht, daß er in vier Tagen durch
Airbag-Fehlzündung sterben wird“
- „Sanfte Revolution der
zwischenmenschlichen Beziehungen: Exhibitionist wird von Polizeibeamten in
Altaussee festgenommen und schwer mißhandelt“
- „Sanfte Revolution der
Freizeit durch sanften Tourismus: Adolf Hitler auf dem Obersalzberg, wandernd“
- „Sanfte Strukturen:
erfrorener Obdachloser in Berlin-Mitte“
- „Sanfte Zeitenwende:
Mordstatistik einer amerikanischen Großstadt zu Beginn des
Wassermannzeitalters“
- „Sanfte Gerechtigkeit:
Alois Mock vor dem Den Haager Kriegsverbrechertribunal“
- „Sanfte Revolution der
Landwirtschaft: Mediamarktfiliale im Salzkammergut“
- „Sanfte Revolution
durch sanfte Stimmen: Marvin Gayes Vater wird nach der Erschießung seines
Sohnes festgenommen“
- „Samtweiche Körper für
sanfte Feelings: von dänischem Touristen mißhandelte thailändische
Prostituierte (14)“
- „Sanfter Erdkörper“
April/Mai 1998: Thomann fährt nach
Moskau. Performance mit Oleg Kulik am Pushkin-Platz, bei dem Kulig in einer
Mönchskutte, Thomann nackt in einem überdimensionierten Aquarium, in dem sich
Aale tummeln, aus der Bibel vortragen. Die Aktion wird polizeilich geräumt.
„Das war phänomenal.
Eine wunderbare, plastische Fortsetzung meiner „Bibelverfilmung“,
vervollkommnet durch Olegs unverwechselbare Regie. Abgesehen davon, war die
Verhaftung wirklich ein hochgradig erotisches Ereignis. Wahnsinn, war ich geil,
zuerst die Aale, dann die Miliz.“
„Die ganze Geschichte
mit der Rainer-Übermalung ist ja eigentlich bekannt. Ein Unbekannter bricht
nachts in das Atelier Arnulf Rainers ein und übermalt dort dessen Bilder, eine
Technik, die Rainer ja selbst anwendet. Am nächsten Tag beschuldigte Rainer,
dem wiederum vorgeworfen wird, die Bilder selbst übermalt zu haben, Thomann die
Tat begangen zu haben. Thomann allerdings äußert sich kryptisch, er habe ein
Alibi; einen Strichjungen vom Wiener Gürtel; die minutiöse Genauigkeit dieses
Alibis allerdings bringt den Verdacht nie ganz zum Erliegen; ein Gerücht, dass
von Thomann selbst häufig durch kryptische Äußerungen geschürt wird.“ (Peter Burger in
einem Gespräch mit Thomas Edlinger/FM4 während einer Sendung über die
Performance am Pushkin-Platz)
Ende
Mai 1998: Aktion „On the Soon-To-Be Eastern Frontier“. Thomann stellt vor den
Verteidigungsministerien in Bonn und Wien A1-große Papierstapel auf, die mit
„Wolgasteinen als Briefbeschwerer“ (Thomann) beschwert sind, „mein
Freiluft-Torres“.
Juni 1998: Thomann thematisiert an der
Hochschule mehr und mehr das Konzept der Ungreifbarkeit einer verbindlichen
Realität. Mit seiner Klasse besucht er am 24. Juni 1998 den ICE-Unfallsort
Eschede um mit einer tragbaren Kombination aus Handy, Notebook und Webcam
Material zu sammeln, das anschließend zu einer Website („Crack ICE, you stupid
minds“/Public Netbase t0) verarbeitet wird.
28. Juni 1998: Erster und einziger
Auftritt der Gruppe „Sapperlott“ mit Thomann (unter dem Pseudonym
„MK71“) als Querflötist im Wiener Soft Egg Cafe/Flex. Der Track „Katzengwascht“
wird als Single auf Sabotage Records veröffentlicht.
„Was Underworld dem Rave
antun, machen Sapperlott in ähnlicher Art und Weise mit Funk: Keine Angst vor
großen Gesten, flächigen Sounds und einer glasklaren Produktion. Das Resultat
dürfte manchem Techno-Fetischisten fast schon als zu glatt erscheinen. Vor
allem die Strophe-Refrain-u.s.w.-Herangehensweise derlei Stücke wie „I Fucked
Friedl Koncilia“ und „Der Dippel und die Pensionistin“ die verhallte Stimme von
Sänger „Viehdieb“ erwecken Popsensibilität.“ (Spex 8/98)
Es kommt (angeblich aufgrund von
Honorarstreitigkeiten) zu einer Schlägerei mit DJ Drehli Robnik.
Juli 1998:
Thomann malt das Bild „Danke!“, das er seinen Eltern widmet; es zeigt „ein
Kinderbild von mir, auf dem ich Klavier spiele, allerdings nur Kopf und Hände,
frei schwimmend in einer mauven Soße, die aussieht wie
Früh-90er-Unterschichts-Sofa-Bespannungen, tatsächlich aber hochaufgelöste
Besucher einer Sportveranstaltung darstellt. In Goldlettern steht darunter das
Wort „Danke“, das meinen Eltern gilt, die mir das Leben, und nicht nur das
Leben, geschenkt haben. Das Bild soll etwas widerspiegeln von der Wärme und Behaglichkeit
unserer Voralberger Stube, die ich als Ursuppe zu interpretieren versuche,
gleichsam aber auch von jener Abendröte der Moderne, in die ich hineingeboren
ward. Etwas Versöhnliches! Frieden, Zufriedenheit, Einklang mit dem Universum,
dessen insgesamter Mauve-Ton mich ins Körperlose transzendiert, aus welchem ich
hervortrete in den der Realität abgestrotzten Bezirk „Wirklichkeit“, wie ihn
meine Eltern mir bestellt haben. Dass ich eine Krone trage, soll als Hinweis
auf die heilende Kraft des Solipsismus verstanden werden. Reinheit, ich glaube
in diesem Bild geht es um Reinheit. Das reinste Ereignis ist wohl der Mensch
selber, wie er uns hier in seiner Lavaterschen Signatur entgegentritt aus
irgendwelchen Tiefen, die ich aber bewusst versucht habe durch den
Bildhintergrund auszusparen. Nicht, dass mir nachher wer mit C. G. Jung oder
solchem Scheiß kommt.“ (aus einem Gespräch mit Frank Apunkt Schneider, das in
monochrom #14 publiziert wird)
10. August 1998: Vernissage von „Sanfte
Revolutionen“ im Wiener Semper Depot.
„Sanfte Revolutionen
werfen dich zurück ins Leben, sie schleifen dich ein wenig unsanft über den
Fußboden.“ (Klaus Nüchtern im Falter Nr. 34, 1998)
„Thomann ist ein
Bilderstürmer.“ (Ingo Lebauf in „Texte zur Kunst“, Herbst 1998)
Bei der Ausstellung „Verstandsaufnahme“
(26. Oktober bis 18. November 1998) im Schloss Gloggnitz, Niederösterreich
sorgt Thomann als Besucher für Aufregung indem er sich wiederholt Zugang zum
Stromkasten verschafft, und in der von ihm verursachten Dunkelheit den bevorstehenden
Kurzschluss des Menschen-Verstandes ausruft. Kontakt zur Künstlergruppe „Shifz“.
3. Dezember 1998: Thomann performt mit
Didi Bruckmayr („Fuckhead“) beim „Skug Research wird 5“-Fest im Wiener
B72. Die Aktion nennt sich „Havanna Krampfradler“. Während Bruckmayr zu
kubanischer Volksmusik eine Schreiperformance durchführt, versucht Thomann sich
selbst mit alten Fent-Traktorreifen zu begraben. Ein Traktorreifen fällt von
der Bühne, trifft beinahe Christian Schachinger („Der Standard“). Dieser kommentiert
die Aktion in einem Artikel vom 6. Dezember 1998 als „ironische Bestialität
ohne Format“.
1999
Vom 14. Februar bis zum 14. März 1999 führt Thomann sein Projekt „My Body is my Buddy Buddy (I) -
Waterworld“ durch. Er steckt seine linke Hand in einen Krug und belässt diese
dort für die gesamte Zeitspanne von einem Monat. Täglich fotografiert er seine
Hand digital und stellt die Fotos als Grafikdateien ins Internet. Die
Internet-User können die „zunehmende Verweichung seines Körpers per
Betrachtung in einem körperlosen Medium“ verfolgen (Thomann in Format
3/99).
März 1999: Nebenrolle als Passant in Rene
Udovicics Polit-Groteske „Die Schleiche, Escape from Neue Donau“, ein
ambitioniertes Statement zum österreichischen Rechtsruck.
April 1999: Thomann beginnt die dreiteilige Serie „Titelbilderserie“,
die aus jeweils 5 Einzelbildern besteht: „Hitlertitelbilder des Spiegel“
(Teil 1); „Tittentitelbilder des Stern“ (Teil 2); „Listentitelbilder
des Focus“ (Teil 3)
Mai 1999: Die Ölbildserie „Sanfte Revolutionen“ vom Vorjahr
wird ergänzt durch die Serie
- „Sanfte Konter-Revolutionen“
- „Sanfte Revolutionen: pfiffiger Nachwuchs stellt sich der
Ikonenschwemme“
„Ein dickes Kleinkind steht rückensichtig auf einem 70er Jahre
Möbel und blickt auf eine in altrosa gehaltene Tapete, auf der 12mal das
Konterfei von Rudolf Mooshammer erscheint“ (Thomas Jeschke in Diessein
9)
- „Sanfte Revolutionen des Innenausbaus: neue Blüte des Handwerks
durch Öffnung für homoerotische Neckischheit und den sanften Rausch des
Schwulen“
„Ein lockiger Knabe, der dem Hermesbildnis von Johann Caspar Goltz nachempfunden ist, steht bis zu den nackten Hüften, jedoch mit Atemschutzmaske vor dem Mund, in Rosenblättern; forsch geschultert hat er ein Schleifgerät, sein seitwärts über das Meer von Rosen gerichteter Blick ist zugleich unschuldig und doch pflichtbewusst. Das Bild richtet sich als „solidarische Hommage“ an Robert Mapplethorpe, wie die Signatur „Richard Wientzek“ aufweist, denn dies ist der richtige Name Mapplethorpes.“
(Thomas Jeschke in Diessein 9)
Unter dem Pseudonym „Richard Wientzek“ erscheint das
Thomann-Bild auch - trotz Bruch mit Johannes Ullmaier - in der Testcard 10,
dort mit der falschen Titelangabe „Selbstporträt mit Schleifgerät“.
- „Sanfte Revolutionen der Innenausbauikonografie durch solides
Schuhwerk
„Man sieht die nackten Beine und blanken Penisse zweier
mutmaßlicher Handwerker in verstaubtem Interieur, an den Füßen sind 80er Jahre
Turnschuhe und apfelgrüne Socken zu sehen.“ (Thomas Jeschke in Diessein 9)
- „Sanfte Revolution in der Kunstpädagogik: leichteres
Verstehen konzeptuell komplexer Enviroments durch ausliegende
Interpretationshilfen.“
Im Juni 1999 Aufenthalt in St.
Petersburg. Aktion Thomanns mit Viktor Snessar von „Laboratorie Chisni“.
Land Art Projekt am finnischen Meerbusen, wo beide eine Woche lang ohne Kontakt
zum Festland auf dem halbfertigen Damm verharren und sich von dem ernähren, was
das Meer zu bieten hat, um auf die ökologische Gefährlichkeit des Damms
hinzuweisen, der das Abfließen der Schadstoffe ins Meer verhindert.
Thomann zieht sich eine schwere
Magenverstimmung zu und muss ins Krankenhaus, dreiwöchiger
Krankenhausaufenthalt.
25. August 1999: Aktion „My Body is my
Buddy Buddy (II) - Gottfleisch“: Thomann lässt sich eine Warze am Rücken
entfernen (verruca vulgaris, rechts skapulär) und lässt diesen Vorgang per
Webcam auf seine Homepage übertragen. Thomann fordert auf der Website in einem
kurzen Essay, die „Geschwulst in den Sternenraum zu katapultieren“. Er
bezieht sich dabei auf Timothy Leary, der seine Asche 1997 ins Weltall schießen
ließ. „Muss jedes Leben scheiße enden, auch wenns halbwegs ok war?“
Thomann äußert sich Ende September 1999
gegenüber „Springerin“ bzgl. Webkunst:
„Man glaubt, dieses
Medium würde Transparenz schaffen, aber das tut es nicht, weil jeder seine
kleine Show abzieht. Warhol wäre begeistert. Die Frage ist, wie stellt man sich
dar, mit welchen Details und Elementen. Das entspricht der Zeitströmung, die
uns erlaubt zu hoffen, dass wir endlich zugeben dürfen, dass wir der Oberfläche
nicht trauen. Oder meinen Sie, dass jeder das wirklich glaubt und dem anderen
abkauft, was da steht? Ich denke, im Internet ist der Zweifel schon inklusive.“
10. September 1999: Premiere von „Gutes
Erb(g)ut/Schlechtes Erbgut“ im Top-Kino. Thomanns Film wird in nur zwei
Tagen mit einem Personalcomputer, einem Mikrofon und einem VHS-Videorekorder
hergestellt. Thomann schneidet Paul Verhoevens „Basic Instinct“ um, und
synchronisiert den Dialog neu. Die Reaktionen bleiben lau; es kommt zu keiner
weiteren Aufführung. (Anm.: Eine Videokopie ist in der Videothek Demonia, Wien
6, Esterhazygasse entlehnbar.)
„Sharon Stone, Michael
Douglas sowie ein paar Randfiguren ficken und sprechen dazwischen, in der
Neuvertonung von Georg Thomann über den Drang zur Fortpflanzung und die
Qualität des jeweiligen Erbgutes. Sharon Stone tötet jeden, der schlechtes
Erbgut hat - aber im Endlosloop probieren sie es immer wieder. Dazwischen
Universum-Bilder von kopulierenden Tieren, auf der Tonspur „Do Ya Think I´m
Sexy“ von den Revolting Cocks - Irgendwie ganz vergnüglich.“ (Michael H.
Arno in „Splatting Image“, November 1999)
23. Oktober 1999: Erscheinungsfest für
Thomanns Buch „Die Konflikt-Masche“ (Edition Selene, Vorwort von Oliver
Marchart) im „Rhiz“.
22. November 1999: Performance „Anti-80er-Jahre-Zynismus-Training
mit der Hallucination Company“ im Wiener Orpheum; Klage des
Rockkabaretts Hallucination Company wegen der widerrechtlichen
Verwendung ihres Namens.
Das Buch ist Thomanns experimentellste
literarische Arbeit, eine Mischung aus Do-It-Yourself-Gebrauchsanleitungen,
radikalem politischen Kommentar, sentimentaler Novelle und „österreichischem
Dagegensein“ (Kurier, 5. Dezember 1999)
„Was vorerst klingt wie
das Salbadern eines mit sich selbst und der Welt unzufriedenen notorischen
Meckerers liest sich fast durchgehend flott, unterhaltsam und herrlich
spannend. „Die Konflikt-Masche“ ist eine verzaubernde Liebesgeschichte, eine
gelungene Einführung in das Bohren von Dübeln und eine fulminante Abrechnung
mit dem postindustriellen Kapitalismus.“ („Die Welt Hamburg“,
20. Februar 2000)
„Die Wucht, mit der
Thomann sich eine Seite lang über Derrick/Tappert ausläßt, rettet die
deutschsprachige Belletristik.“ („Neue Zürcher Zeitung“, 3. Februar 2000)
„Thomann gilt wohl als Begründer
des ‚Neuen Gebrauchswerts‘.“ („FAZ“, 11. Januar 2000)
31. Dezember 1999: Thomann wirft zur
Mitternacht Plastikhaie von der Augartenbrücke in den Wiener Donaukanal.
„Das wird das Jahr des
großen Jubiläums. ‚Der weiße Hai‘ ist 25 Jahre alt.“
2000
Januar 2000: Fortsetzung der „Ulknudeln Gedenkbilder“ mit den
Gattinnen der österreichischen Bundespräsidenten seit Republiksgründung.
Weiters plant Thomann die Bilderserie „To
lose law-track/Verlasse bitte den Pfad der Tugend, liebe Jugend“:
Porträtserie mit jugendlichen Straftätern aus Wien und Niederösterreich im
Stile des französischen Malers Toulouse-Lautrec. Diese wird nicht realisiert.
Februar 2000: Anlässlich der schwarz-blauen Regierungsbildung
verfasst Georg Paul Thomann das Manifest „Frohdrum“, das allerdings mit
Smilies hinterlegt ist, was zur Kritik durch das Bündnis „Solidarität“
führt und bei einer Podiumsdiskussion im Republikanischen Klub heftig
angegriffen wird, u.a. von Rainhardt Hörbig und Heimo Zobernig.
Im Manifest „Frohdrum“ heißt es:
„Es gibt etwas zu repolitisieren, packen wirs an. Am 4. Februar
2000 trat eine Regierungskoalition von FPÖ und ÖVP in Kraft. Seither ist nichts
mehr wie zuvor. Ich spüle nicht mehr ab, es stinkt bei mir! Ich kann nicht mehr
in meinen, unseren Alltag zurückkehren. Nicht mal eine Semmel mag ich mir mehr
kaufen, angesichts dieser Machtverhältnisse. War ich vorher ein zynischer
Altlinker ohne Ideen, wurde ich über Nacht zum zynischen Altlinken, der gar
nicht weiß, was zuerst malen. Innerhalb von 4 Stunden kamen mir gestern bereits
fast 20 Bildtitel, die dem Gebot der Stunde Folge leisten: „Flagge zeigen!“
bzw. „Farbe bekennen!“. Auf handgeschöpftem Büttenpapier aus der
Künstlerkolonie Hellerau kann man/frau ein handnummeriertes Faksimile meines
diesbezüglichen Schmierzettels erwerben. Gesamtauflage: 100. Zugreifen! Die
ersten 3 Besteller erhalten je eine von mir zusammengestellte selbstgebrannte
CD mit den schönsten Liedern von Leonard Cohen. Die Bilder würde ich gerne
malen, wegen der schönen Titel, denke aber mal, dass es einfach zu viele sind.
Das lass ich wohl lieber! Also in dem Sinne: Machts kaputt, was euch
kaputtmacht! Denn: wir können ja nicht gewinnen, wenn wir allein sind. Aber wir
sind viele! Ganze Fußgängerzonen voll.“
Dieses Manifest wurde per Mail in Umlauf gebracht. Als
Attachement findet sich das besagte Faksimile mit den Bildtitelideen:
„Gelbe Flecken gegen Nazis!“
„Großflächiger Farbauftrag mit Spachtel und
Zigarettenschachtel (HB) gegen Rechts!“
„Sensible Großstadtbeobachtung gegen neurechte Tendenzen im
urbanen Raum!“
„Weinender Clown gegen die Koalition!“
„Kaltnadelradierung einer Winterlandschaft im Stile Alfred
Kubins gegen mindestens 30% der österreichischen Bevölkerung!“
„Improvisierte Saxophonsoli gegen Haider!“
„Inszenierung meiner Abwesenheit gegen gesellschaftliches
Klima!“
„Zu Würfel gepresster Autoschrott gegen das Wiederaufkeimen
des Geistes von ’33!“
„100 aufgereihte defekte Schreibmaschinen gegen das
Vergessen!“
„Alter Postsack gegen alte Garde!“;
„Verbranntes Bernhard-Buch gegen Bücherverbrennungen!“
„Schwarzes Dreieck gegen Schwarzhemden!“
„Braune Soße gegen „braune Soße!“„
sowie „Rituelle Bewerfung mit Fleisch gegen Rassismus!“.
Auf der FM4-Homepage wirft Martin Blumenau Thomann
deplazierten Sarkasmus vor. Die Zeitschrift Beute findet Thomanns Aktion
von „Schlingensiefscher Kontraproduktivität“; Joris Hellmer und Gunther
Pfäff distanzieren sich öffentlich in einer FM4-Radiodiskussion von
Thomann. Thomann selbst bezeichnet dieses Manifest in einem Gespräch mit Stefan
Rathke (in Querbalken 9) als „überstürzte Idiosynkrasie“ und
distanziert sich kurz darauf davon ausgerechnet in einem Leserbrief an die Kronenzeitung.
Ende Februar 2000: Thomann lernt den Elektronikmusiker und
Computerkünstler Tonki Gebauer bei einer Demo gegen
die ÖVP-FPÖ-Regierung kennen.
März 2000: Thomann beginnt mit der Arbeit
an seiner Installation „Anteil 04“. [Anm.: Zusammenarbeit mit dem
Institut für Pathologie der Medizinischen Universität Wien, der Biochemistry
Research Group der Universität Ithaca, NY und der Künstlergruppe Shifz]
Weiters konzipiert Thomann „Such a
Lovely Place“; eine Projektion von Länderprofilen („der wahre Kaukasus sind
die Alpen!“) auf den linken Flügel des Parlaments (nicht realisiert).
Ende März 2000: Thomann und Tonki Gebauer
planen eine Live-Kollage aus Schi- und Jodelfilmen. Nach Besuch der Performance
„Kassasturz“ des Instituts für Transakustische Forschung verwerfen beide diese
Idee. Thomann sieht sich gespiegelt.
Thomann entschließt sich zu einer Diät und nimmt in den darauffolgenden Monaten ungefähr zwölf Kilogramm ab.
April 2000: Das „selbstkritische“ (Thomann in seinem
Newsletter „There’s a time to laugh and a time to cry“) Bild „Ich
hatte doch ausdrücklich gesagt: keine Sardellen!“ entsteht; „Es soll
begriffen werden als eine Auseinandersetzung mit meiner Unfähigkeit anlässlich
der schwarz-blauen Koalition keinen Ulknudelsalat zu produzieren“; Vivian
Stölzle wirft Thomann vor, selbst die Thematisierung seiner Ulkverfehlung
„Frohdrum“ als „Thomannsches Ulkmonstrum“ zu betreiben (ihr Text wurde auf der
Homepage des Aktionsbündnisses „get to attack“ veröffentlicht).
Daraufhin präsentiert Thomann die Aktion „Ein
Schamhaar für eine politische Schamgrenze“ und „Ein Königreich für eine
Demokratie“.
Am 1. Mai lernt Thomann bei einem
Picknick in Düsseldorf den Maler Gerhard Fresacher und Oliver Welter (Sänger
von „Naked Lunch“) kennen, durch die zahlreichen Bekannten Thomanns in
Moskau kommt die Performance „Demontage der Superheroes“ in der XL Galerie
zustande, wo Fresacher als Superman, Welter als Batman, Thomann als Roter Blitz
und der Moskauer Künstler Gosha Ostretsov als russisches Superhero-Pendant sich
auf einem vor der Galerie stehenden Container mit Pjatisvesdaja-Vodka
betrinken. Das Publikum ist verwirrt und verstört.
„Sämtliche Idole und
Ideale der westlichen Welt haben in Russland Nährboden gefunden, politische wie
wirtschaftliche Größen, Mickey Mouse, Semperit und Tofix-Männchen, nur die
Superheros sind aus unerfindlichen Gründen, bis zu unserem Auftritt, nie in Russland
angekommen.“ (Thomann in „Art Forum“, August 2000)
Thomann beendet seine Arbeit an „Anteil
04“.
Anfang Juni 2000: Unter dem Namen „polizei14“ beginnen Thomann und
Tonki Gebauer an der Arbeit eines Stücks für den Metallica-mp3-Contest des
Plunderphonic-Labels „illegal-art“.
Nach immer zäher werdender Zusammenarbeit
zwischen den beiden läßt Thomann das „Schicksal“ entscheiden (siehe: Tonki
Gebauer in „Wer erschoß Immanenz?“). Das Stück wird nie vollendet.
Juni 2000: Thomann arbeitet an der Werkreihe „Actionpainter“.
- „Actionpainter im Baumarkt“
- „Actionpainter im Hochzeitskleid seiner Mutter, schwitzend
onanierend (es ist August)“
- „Actionpainter bei der Papst-Audienz“
- „Actionpainter im Kino, verwirrt und geil“
- „Actionpainter installiert eine Webcam in seinem Atelier“
- „Actionpainter träumt von eigener Homepage“
- „Actionpainter sucht
Actionpainterin“
- „Actionpainter wie ihn keiner kennt“
Sommer 2000: Thomann unternimmt ab Juli 2001 eine vierwöchige
Reise in die Vereinigten Staaten und gibt im Vorfeld in Österreich und
Deutschland aber auch während seines Aufenthalts in den USA einige Interviews.
Der Pranke Verlag zeigt sich interessiert Thomanns erstes Buch „The Past and
the Future“ in einer überarbeiteten Version neu zu verlegen und Thomann nützt
die Gelegenheit das Thema des Buchs zu promoten. (Anm.: Pranke zieht sich im
Herbst 2000 aus dem Projekt zurück.)
3. September 2000: Präsentation von „Anteil
04“ im Rahmen von „Ars in der Manege 2000“/Free Speech Camp AEC.
Aus dem Festivalprogramm von „Ars in
der Manege“:
„Ein großer,
durchsichtiger Tank ist mit einer seltsamen Brühe gefüllt. Diese Brühe ist -
verhältnisgetreu - eine Mischung aus verschiedenen Elementen: Kohlenstoff
(repräsentiert durch Kohle), Wasser, Eisen (rostige Nägel), Phosphor, Calcium
(durch Kalk), etc. - genau jene Elemente also, aus denen ein 82 Kilogramm
schwerer Mensch bestehen würde. Im Tank steckt eine Schaufel. In sternförmiger
Anordnung laufen an blinkenden Girlanden befestigte Illustrierten-Psychotests
auf den Tank zu. Über dem Tank hängt ein Monitor, der eine Aufnahme der
Zeltbesucherin bzw. des Zeltbesuchers zeigt und „rezipieren“ einblendet.“
Auf dem Tank befindet sich folgende
Notiz:
„Dieser Bottich enthält
das elementare Material für einen 82 Kilogramm schweren Menschen. Wenn er
geboren worden wäre, dann würde er Georg P. Thomann heißen und wäre Künstler
geworden. Er hätte diese Installation gebaut.“ Gezeichnet: „Georg
P. Thomann“.
Am letzten Tag der Aktion beauftragt
Thomann die Kuratoren Johannes Grenzfurthner und Evelyn Fürlinger per
EMS-Sendung, „ihn“ (den Bottich) in die Donau zu entleeren. Per Postkarte an
ihre Wiener Privatadresse werden die Kuratoren aber darauf hingewiesen, „sie
haben mich nicht entleert.“
„Anteil 04“ ist eine von Thomann von
langer Hand geplante „Möbiusschleife der Eitelkeit“ (Frank Bertmann-Trauner, Kurier).
„Thomanns Ratlosigkeit, die Plurivozität jenes Verschwindens, als
das er sich seit den späten 60er Jahren stets aufs Neue inszeniert hat, die
quasi-hypertextuelle Befragung der akademistischen Abwesenheit in seinen
vielhundertfachen Werkstücken und –splittern, jenes „Épater l’avantgardiste,
c’est épater le bourgeois“, wie er sein „countercultural-DJ-Set“ (Thomann über
Thomann) einmal beschreibt, transponiert ihn von der Entität zur Fläche. Der
Gestus seiner py-romantischen Selbsterschaffung ist jener der
impressionistischen Wischtechnik. Was uns Thomann verkauft, sei es als Werk
oder sei es als Mensch, ist immer nur das Flackern der Kategorien. Dass Thomann
dieses Anliegen auch in das Werk anderer trägt, zeigt der Wiener Kunstskandal
der sogenannten „Arnulf-Rainer-Übermalung“, die - wie gerüchteweise behauptet
wurde - von keinem anderen als Georg Paul Thomann durchgeführt wurde, zumindest
aber von dessen Aktion „Übermalen nach Zahlen (33-45)“ angeregt war.“ (Mariele
Schrader in Diskurskorrektur. Hefte zu Kunst & Tragik. Wien 2000.)
Oktober 2000: Thomann und Tonki Gebauer
planen die Aktion „Schafft ein, zwei, viele Peter Handke-Bücher!“ von 1981 in einem
Kurzspielfilm zu verarbeiten. Als Titel werden „Handke
malt“ oder „Handke und Fusske“ überlegt. Die Musik soll Tonki Gebauer
beisteuern. Das Projekt wird nie realisiert.
November 2000 bis April 2001: Thomann erhält ein Stipendium am Bamberger Künstlerhauses „Concordia“ von November 2000 bis April 2001; anfangs pendelt er aber bereits im Februar bricht Thomann jedoch aufgrund interner Querelen das Stipendium ab und kehrt zurück nach Wien; „Auf dem Rückweg sah ich mir Salzburg an.“
24. November 2000:
Im Anschluss an ein Interview mit dem in Bamberg ansässigen monochrom-Redakteur
Frank Apunkt Schneider (erscheint in Ausgabe #14) gründen beide gemeinsam die
temporäre Gruppe „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“, die nur für
eine einzige Aktion Bestand haben soll und sich daher am 20. Dezember wie
geplant auflöst. Als Auflösungsritual porträtieren Schneider und Thomann sich
jeweils gegenseitig in altmeisterlicher Manier, die Bilder „Frank Apunkt
Schneider als Benjamin von Stuckrad-Barre mit Ween-Aureole“ und „Der
Vater von Helmut und Isaac Newton auf der Pirsch“ entstehen.
Als einzige Aktion der Gruppe „Die offene Gesellschaft und ihre
Feinde“ wird die „Proto-Mail-Art-Aktion“ (Schneider während einer
Podiumsdiskussion im Wiener Depot) „Are you ready for „Die offene
Gesellschaft und ihre Feinde“„ durchgeführt; hierzu werden mehrere hundert
Gratis-Motivpostkarten, wie sie in der Bamberger Innenstadtmensa (wie an vielen
anderen deutschen Universitäten auch) in einem eigens eingerichteten
Postkartengestell ausliegen, entwendet. Ingesamt handelt es sich um drei
differierende Motive („Stell‘ Dir vor es ist Uni und keiner geht hin“,
„Internationales Management“ und „Ein offenes Betriebssystem hat nicht
nur Vorteile“; letzteres eine Werbepostkarte von Microsoft, die
beiden ersten Gewinnerarbeiten eines studentischen Gestaltungswettbewerbs). Die
entwendeten Postkarten werden verfremdet mit jeweils 3 Frontseitenaufklebern
und einem Rückseitenaufkleber, der die präparierte Karte als Kunstwerk bzw.
Multiple ausweist und Informationen zum Werk enthält: Urheber (Thomann), Titel
(„Sympathy for the „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“!“; „Gimmie
Gimmie Gimmie „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“!“; „Paint it „Die
offene Gesellschaft und ihre Feinde“!“), Herstellungsjahr, verwendete
Materialien sowie den fiktiven Preis von 50 DM.
Die Aufkleber stellen dabei kritisch Bezug zum Golfkrieg her („Die
gegen den Irak verhängten Sanktionsmaßnahmen vernichteten nach internationalen
Schätzungen ca. 0.5 Millionen Feinde der offenen Gesellschaft im Alter von 0
bis 14 Jahre. Das wird den übrigen 3,5 Milliarden Feinden der offenen
Gesellschaft eine Lehre sein!“) sowie auf das von Karl Popper geprägte
Schlagwort von der „offenen Gesellschaft und ihren Feinde“ („Gemeinsam
sind wir prima: „Die offene Gesellschaft & ihre Feinde“„; „„We’ll
begin bombing in five minutes!“„; „Die offene Gesellschaft dankt dem Araber für
jahrelange treue Feindschaft“ etc.)
Da die Kästchen des Gestells mit dem darin befindlichen Motiv
überblendet sind, und man/frau also nicht sehen kann, was sich im Kästchen
befindet, stellen Schneider und Thomann die präparierten Karten wieder ein. Auf
diese Weise gelangen ca. 2000 Postkarten in Umlauf.
„Wir haben über einige Wochen hinweg die Karten aus den Ständern
entfernt und zuhause oder im Café mit eigens dafür hergestellten Aufklebern
versehen und die so präparierten Karten wurden wieder eingestellt. Das ist ein
dankbares Material und liegt zudem noch kostenlos auf.“ (Schneider
während der Podiumsdiskussion)
Nach der offiziellen Beendigung der Aktion schreibt Thomann einen
Brief an den Bamberger Universitätsrektor Prof. Dr. Ruppert, in dem er sich von
den mit seinem Namen signierten Postkarten distanziert und erklärt, nichts
damit zu tun zu haben. Zwar habe er sich in Folge des ihm gewährten Stipendiums
zu diesem Zeitpunkt in Bamberg aufgehalten, die Postkarten-Aktion sei jedoch
ohne sein Wissen und seine Erlaubnis durchgeführt worden. Er fordert die
Bamberger Universitätsleitung daher auf, diese widerrechtliche Verwendung
seines Namens in Zukunft zu unterbinden, indem die Karten entfernt werden
sollen, was seines Erachtens Aufgabe des Hausmeisters sei. Zudem sei diese
Aktion ohnehin nur das Plagiat einer von Thomann selbst im Herbst 1985 an der
Wiener Universität durchgeführten Aktion, bei der er gefälschte Mensa-Essmarken
verteilt habe, die auf der Rückseite mit dem Namen Nam June Paik signiert
waren.
In einem zweiten, anonymen Brief an
Ruppert fordert Schneider diesen auf, ihn zu exmatrikulieren. Weiters enthält
der Brief Hinweise zur Auffindung des Urhebers (u. a. die Quersumme von
Schneiders Immatrikulationsnummer-Abschnitten). Es kommt leider zu keinem
vernünftigen Universitätsskandal.
„Der Künstler als
Opportunist: Thomann verkörpert wie kein anderer „Avantgardist“ dieses
Jahrhunderts den Typus des „Wendehalses“ als artistische Strategie. Verstörend,
ja: unsympathisch wirkt diese Haltung aber nur auf jene, die dem Künstler noch
immer einen moralischen Persilschein ausstellen bzw. ihn zu einer moralischen
Instanz erheben. Dass Künstler aber Arschlöcher sind wie du und ich, das lerne
ich aus dem gesamten Kunstschaffen des G. P. Thomann. Dafür dank ich ihm.“ (Fritz
Ostermayer/FM4 „Im Sumpf“, 26. November 2000)
20. Dezember 2000: Thomann schickt Polaroid-Fotos an die Redaktion
der Zeitschrift „Springerin“. Sie zeigen neue Bilder der „Helmut und Isaac
Newton“-Reihe. (Bis Redaktionsschluß der Biografie wurden diese Bilder von
Thomann nicht ausgestellt.)
- „Helmut und Isaac Newton covern ‚It’s Raining Men‘ mit ihrer
Band“
- „Helmut und Isaac Newton am Grab von Karen Carpenter, weinend,
trostlos und total zerstritten“
- „Helmut und Isaac Newton malen ein Aktporträt von Georg P.
Thomann, einer kollektiven Künstlerfigur aus der Wiener Subkultur“
- „Helmut und Isaac Newton bepissen sich vor Lachen über eine sehr
ernste Angelegenheit“
- „Helmut und Isaac Newton verbrennen ihre Witwe am Ganges“
- „Helmut und Isaac Newton bauen sich selber ein Theremin“
- „Helmut und Isaac Newton neben Didi Hallervorden als Stargäste
bei Harald Schmidt“
- „Helmut und Isaac Newton masturbieren heimlich im
Landhausmodenshop (sie sind nämlich Fetischisten)“
- „Helmut und Isaac Newton bohren sich ein Loch ins Knie und
finden’s wunderbar“
28. Dezember 2000: Thomann reserviert für den
Jahreswechsel in dreißig Wiener Lokalen Plätze für „Georg Paul“ und „Schorsch
Thomann“, erscheint aber nirgendwo. Anschließend verfasst er Leserbriefe an
alle wichtigen Lifestyle-Redaktionen der österreichischen Tageszeitungen und
beschwert sich über die schlechte Bewirtung.
2001
Januar 2001: Thomann beginnt in Bamberg die Arbeit an der Reihe „Die
Zukunft ist ein unermesslicher Themenkreis der menschlichen Gestaltung“ für
die 10. Ausgabe der Mainzer Poptheorie-Zeitschrift Testcard. Beiträge zur
Popgeschichte, die sich dem Thema „Zukunftsmusik“ widmen soll.
Thomann verlangt jedoch von der Redaktion, die eingereichten Bilder farbig zu
reproduzieren. Dies lässt sich nicht realisieren, es kommt zum Bruch zwischen
Georg Paul Thomann und Johannes Ullmaier (Testcard). Die Bilder „In
Zukunft wird es Städte geben, die in seifenblasenähnlichen Kuppeln über der
unbewohnbaren Landschaft schweben“; „In Zukunft wird es nicht mehr nötig
sein, das Unmögliche zu fordern, um das Mögliche zu erreichen“; „In
Zukunft wird es ganz neue Formen von Kunst geben, die wir uns heute noch gar
nicht vorstellen können, z.B. durch Gentechnologie“ und „In Zukunft wird
es uns von intelligenter Mikrotechnologie abgenommen, einander mit Toleranz zu
begegnen. Fluch oder Segen?“ werden in der Wiesbadener Galerie Knöllchen
ausgestellt.
12. Januar 2001: Aktion „Optikerladen,
geheim“.
Vrääth Öhner über diese Aktion in Radio Orange/Wien: „In der
Stumpergasse, im 6. Wiener Gemeindebezirk, ziemlich genau gegenüber dem
beliebten lokal „Nachtasyl“, habe ich einen alten (schon lange geschlossenen)
Optikerladen mit beigefarbener Fassade entdeckt, den Thomann offensichtlich vor
kurzem als Objekt seines Verschwindens inszeniert hat: der Optiker hieß nämlich
„Viktor Thomann“, was noch auf der Fassade zu lesen ist, und Thomann hat die
Fassade einfach mit weißer Farbe übermalt, allerdings so, dass die Schrift
darunter noch lesbar ist. Ein, wie ich finde, gelungener, und ob der Tatsache,
dass die Aktion nicht angekündigt war, auch überraschender Beweis für Thomanns
Konsequenz bei seiner Selbstabschaffung als Autor von Kunstwerken.“
Am 26.
Januar 2001 findet im Depot/Museumsquartier eine Podiumsdiskussion zum Thema
„Wollt ihr die totale Phantasie“ statt, die sich laut Ankündigung mit dem „Verhältnis
von Thomanns Arbeit zu aktuellen künstlerischen Strategien“ beschäftigen
will. Zu dieser Veranstaltung wird auch Thomann eingeladen.
Thomann
sagt die Teilnahme an der Veranstaltung per Fax ab, übersendet aber folgenden
Kurztext:
„Die amerikanische Außenministerin Madeleine Albright wird
am 12. Mai 1996 von Journalisten mit dem Umstand konfrontiert, dass die
amerikanischen Sanktionsmaßnahmen gegen den Irak ca. eine halbe Million Kinder
das Leben gekostet hätten. Nach kurzem Nachdenken antwortet diese: „I think it
was worth it“. Thomann schreibt ihr einen offenen Brief, in dem er sie auf
einen eklatanten Rechenfehler hinweist: es handle sich nicht um eine halbe
Million, sondern nur um 166.666,66 Kinder, da ja nicht von vollgültigen
mitteleuropäischen Subjekten im Sinne von Aufklärung und Humanismus ausgegangen
werden kann, sondern nur von „Fast-Negern“, die Summe müsse daher durch 3
geteilt werden. Diese Aktion begleitend plant Thomann die Aktion „‘Wie süß!‘
1-166.666,66“, indem er der amerikanischen Außenministerin 166.666,66
Kinderfotos in Einzelkuverts schicken will. Nach 5000 Kinderbildern bricht
Thomann die Aktion ab, da er keine Sponsoren findet (Angefragt waren die
Zeitschriften „Rennbahn Express“ und „Music Man“, die Herstellerfirma der
Getränkemarke Almdudler, die österreichische Volksbank und die BAWAG).“
Darunter
bemerkt er: „Das hätte ich gerne gemacht, aber ich war nicht in der Lage
dazu. Gez. G. P. Thomann“
Februar 2001: Thomann bricht das Stipendium in Bamberg aufgrund
eines Streites mit dem Mit-Stipendanten Rainer-Werner Schnetz ab und kehrt nach
Wien zurück; dort führt er die Aktion „Hitlerbilder Phase 2“ durch;
zahlreiche österreichische Prominente (André Heller, Franz Vranitzky, Vera
Russwurm, Jörg Haider, DJ Ötzi, Günther Tolar, ...) werden angefragt, ob sie
bereit wären, sich von Thomann als Hitler porträtieren zu lassen. Die fertigen
Bilder mit den durchnummerierten Titeln „Top Hitler 1-n“ sollen im
Rahmen einer Ausstellung verkauft werden, wobei der Erlös als Spende an ein
Schulbauprojekt in Rumänien fließen soll.
„Mir ging es gar nicht so sehr darum, einfach mal einen total
schlechten Scherz zu machen, mit dem man wirklich alle vorstellbaren
Fettnäpfchen abdeckt, obwohl man mir ja gerne solche Motive unterstellt – und
was einem als zeitgenössischer österreichischer Künstler so unterstellt wird,
das sollte man auf jeden Fall für sich produktiv machen, in dem man z.B. sagt –
anders als der Schlingensief, den ich an dem Punkt noch zu humanistisch finde –
jawoll, ich bin ein Provo; jawoll, ich bin ein enfant terrible; jawoll, ich bin
ein provokantes Mitglied unserer Güter- und Wertgemeinschaft. Nur her damit!
Lyotard hat ja mal gesagt, der Kapitalismus wird nicht an einem Mangel zugrunde
gehen, sondern an einem Zuviel! Das gilt meines Erachtens auch für den anderen
Kapitalismus, den Informationsmarkt. Aber, wie gesagt, ich hatte ursprünglich
gar nicht daran gedacht, sondern an etwas ganz anderes. Es gab da ja mal diese
Bestrebung, den exakten Durchschnittsmenschen im Computer zu entwicklen oder
das normalste Gesicht oder das universale Schönheitsideal der Menschheit, genau
weiß ich das jetzt nicht mehr, jedenfalls hat man dazu die Gesichter
verschiedener, in den unterschiedlichen Kulturkreisen und Milieus als schön
geltender Menschen übereinanderlegt. Und was dann dabei rauskam, war so
unglaublich langweilig, glatt und nichtssagend mit allerdings
interessanterweise asiatischen Grundzügen. Da habe ich mir gedacht, was ist
denn universell in der Physiognomie, welches Gesicht kann denn im Prinzip von
jedem anderen Gesicht auf der Erde mit geringstem Aufwand reproduziert werden:
da sind mir zwei eingefallen: Chaplin und Hitler. Sicherlich geht es hier nicht
eigentlich um Gesicht, sondern um gewisse selbstgewählte Attribute, also Bart
und Scheitel beim Hitler und beim Chaplin auch der Bart und der Hut und der
Stock – obwohl der strenggenommen gar nicht mehr zum Gesicht gehört, oder
vielleicht doch? Dass ich mich für den Hitler entschieden habe, war dann
erstens darin begründet, dass ich meinen wie oben beschriebenen Ruf wahren
wollte, zweitens darin, dass Chaplin schon kulturindustriell in diese
humanitäre Fußgängerzonen-Ästhetik hineingeschrieben ist und allseits als „gut“
rezipiert wird und drittens, dass dieser den Hitler ja schon mal dargestellt
hat, so dass Hitler also das primäre Gesichtszeichen oder meinetwegen
„Superzeichen“ wäre und Chaplin das sekundäre, wenn Du verstehst. Naja,
jedenfalls wie Prominente so sind: trotz gutem Zweck und so hat mir außer dem
Hermes keiner geantwortet, was aber auch gut ist, dann muss ich nicht soviel
machen und es geht mir als Provokation durch. Denn später fand ich das schon
irgendwie problematisch und war froh, dass ich quasi durch das Desinteresse
seitens der Angefragten dann davon entbunden wurde. Die Aktion war eh so aus
der Laune heraus entstanden, dass ich was ungemein blödes machen wollte, was
niemand gut oder witzig findet und was nicht nur so einen Bart hat, sondern ihn
in Form des Hitlerbartes auch quasi-ikonographisch zeigt.“ (Thomann in
einem Gespräch mit Thomas Edlinger/“Im Sumpf“.)
April 2001: Thomann malt „Wellness mit Mombrezie“.
März 2001: Arbeit an der Bilderserie
„Fußgängerzonenmenschenmitgefühlsquadrate“.
Frühjahr 2001: In „Kulturrisse“ 03/01 der IG Kultur
Österreich wird einen Artikel über Thomann kritisiert und Thomann als „Fake“
angegriffen. Thomann übermittelt einen Leserbrief und outet den Autoren des
Textes als den Diffamierungsaktivisten Johnny Laibarös (Werner Leistner).
„Zuletzt noch möchte ich Dich darauf hinweisen, dass man sich im
Netz, für das ich mich mit meinen 56 Jahren noch keineswegs zu alt fühle, auch
wenn das lange Sitzen oft schon schmerzt, hervorragende Anagrammwebsites
aufrufen kann, damit hättest Du wirklich was besseres aus den Buchstaberln
meines Namens machen können als „Anthon Pomgger“. Im Namenslexikon meines
kinderreichen Stiegenhausnachbarn, das ich mir jetzt sogar extra ausgeborgt
habe, gibt es ›Anthon‹“ mit ›th‹ überhaupt gar nicht, dafür ›Answer‹, aber das
tut nichts zur Sache. Dass Du Dich um den bekannten, also mir zumindest
bekannten, und seit Jahren ja auch persönlich bekannten, österreichischen
›Post-Mail-Artisten‹ (Falter 9/95) Werner Leistner alias Johnny Laibarös
handelst, ist klar, da Du ja mit ähnlichen „Irritainments“ (Laibarös über
Laibarös) bereits einiges an ›produktiver Verwirrung‹ hingelegt hast.“ (Thomann in
„Kulturrisse“ 04/01)
August 2001: Thomann malt „Schon wieder so ein Aids-Fuzzi in
der U-Bahn“ und „Freiheit ist nur ein weiteres Wort für Freiheit“ – zwei
seiner bisher eindringlichsten Bilder.
Juli 2001: Mexikoaufenthalt; Thomann malt „Con Mexico à la
victoria – Kommunalwahl in Michoacan, Mexico“.
Anfang September: Thomann zeichnet “Selbstporträt als ein Haufen Tusche“.
Oktober 2001: Thomann wird von der Kuratorin Zdenka
Badovinac eingeladen die Konzeption und Umsetzung des österreichischen Beitrags
zur Biennale Sao Paulo 2002 zu übernehmen. Thomann sagt zu. Er entwickelt das
Projekt „<Yes, Sir, I can network it out, Sir!> <Smells like
team-spirit, Sir!> <We are the World, we are the Children, Sir!>“ und
lädt dazu einige junge österreichische Künstler/Künstlergruppen (monochrom,
Tonki Gebauer, 320x200, Richard Wientzek) ein.
Thomas Edlinger, Johannes Grenzfurthner und Fritz
Ostermayer kündigen an ein diskursives Buchprojekt über Thomanns Arbeiten mit
dem Titel „Wer erschoß Immanenz?“ veröffentlichen zu wollen.
Dezember 2001: Thomann gestaltet die vierteilige Serie „Esperamos
verle de nuevo“, es handelt sich um „kritische Farbkopien zum
Weltgeschehen“. Thomann beschäftigt sich mit der Situation in Afghanistan, der
Euroumstellung sowie einem Hummer.
Weiters entstehen die Werke „Selbstporträt
als kopierte Schilling-Euro Tabelle“ und „Materialstudie mit bierlaunigem
Eigenfoto-Scan und Photoshop-Kristallisationsfilter“.
15. Dezember 2001: Thomann schreibt das
Manifest „Zitierfähiges Material“, das er mit der zweiten Presseaussendung für
die Biennale Sao Paulo verschicken will.
2002
3. Januar 2002: Thomanns Digitalfotografie „Für Amerika ist
endlich wieder alles ‚halb voll’“ entsteht.
6. Januar 2002: Thomann präsentiert seine Fotoaktion „Die
Freiheit, die wir meinen (aber bitte mit Gummi)“. Thomann behauptet einen
Angestellten einer Wiener Plakatwerbefirma bestochen zu haben, damit dieser ein
Werbeplakat für das aktuelle
FPÖ-Anti-Temelin-Anti-Tschechien-Osterweiterungs-Volksbegehren „Ja zum Leben“
über einem Bordell im 2. Wiener Gemeindebezirk aufhängt – und nicht wie geplant
eine Schuhwerbung. Thomann verbreitet die Digitalfotografie im Netz.
Ende Januar 2002: Thomann konzipiert seine Werkreihe
„Ohrwürmer der Abgeschmacktheit“.
„Ich finde jedenfalls, dass man dieses Ohr gar nicht genug thematisieren kann. Ich will, dass es selbst den Japanerinnen im Museum und den 16jährigen Dark Wavern zum Hals raushängt, das Ohr vom van Gogh. Ich arbeite ohnehin gerade an einem diesbezüglichen Bilderzyklus, den ich nach Sao Paulo fertigzustellen hoffe. Der Arbeitstitel ist „Ohrwürmer der Abgeschmacktheit. Für Theo van Gogh“. Ich werde besagtes Ohr in die bescheuertsten Bilder der Kunstgeschichte reinkopieren, z.B. in die „Ermordung des Jean Paul Marat“ vom David, wo ich einfach das Gesicht vom Marat durch das Ohr vom van Gogh ersetzen werde. Oder der Mona Lisa auf die Augen pappen. Also ich kriege richtig Gänsehaut, wenn ich daran denke.“ (Thomann in einem Gespräch mit Almuth Spiegler in „Die Presse“, 19. Januar 2002)
Februar 2002: Thomann nimmt eine Einladung „<Yes, Sir, I can network it out, Sir!> <Smells
like team-spirit, Sir!> <We are the World, we are the Children, Sir!>“
ab Juni 2002 in Santiago de Chile zu zeigen an.
13. März 2002: Die Release-Party für “Wer erschoß Immanenz?” findet im
Wiener B72 statt. Thomanns Performance „Tele-Massenheilung“ (im Rahmen der
Wiedervereinigung von „Die offene Gesellschaft und ihre
Feinde“) wird präsentiert.